Luke erreichte die Veranda des Stationsgebäudes, wo er weiterhin nicht im Blickfeld des Mannes im Stellwerk war, und der Rangierer hatte ihm den Rücken zugewandt. Umdrehen würde der sich wohl kaum. »Wenn man in einem solchen Job die Konzentration verliert, kann man leicht eine Hand verlieren«, hatte Mr. Destin den beiden Jungen einmal erklärt.
Der Computerausdruck auf dem Klemmbrett enthielt nicht gerade viel; die Spalten für die Gleise 2 und Gleis 5 enthielten nur zwei Wörter: NICHTS GEPLANT. Von Gleis 1 sollte um 17 Uhr ein Zug nach New Brunswick in Kanada abfahren, was nichts brachte. Auf Gleis 4 war um 14.30 Uhr ein Zug nach Burlington und Montreal vorgesehen. Besser, aber nicht gut genug; wenn Luke um die Zeit immer noch hier herumhing, saß er mit ziemlicher Sicherheit in der Patsche. Gut sah es auf Gleis 3 aus, wo der Rangierer gerade den Wagen mit der Aufschrift New England Land Express abfertigte, den Luke beim Überqueren der Brücke beobachtet hatte. Der letzte Zeitpunkt, an dem der Bahnhofsleiter – zumindest theoretisch – weitere Güterwagen für den Zug mit der Nummer 4297 annehmen würde, war 9 Uhr, und um zehn sollte der besagte Zug Dennison River Bend in Richtung Portland/ME, Portsmouth/NH und Sturbridge/MA verlassen. Die letztgenannte Stadt musste mindestens dreihundert Meilen entfernt sein, wenn nicht gar wesentlich weiter.
Luke zog sich hinter den ausgemusterten Güterwagen zurück und beobachtete, wie die Wagen auf verschiedenen Gleisen den Ablaufberg hinunterrollten, manche zu den Zügen, die am heutigen Tag abfahren würden, andere an eine Position, wo sie stehen bleiben würden, bis man sie brauchte.
Als der Rangierer mit seiner Arbeit fertig war, stieg er aufs Trittbrett der Rangierlok, um sich mit dem Lokführer zu unterhalten. Der Stellwerker kam herunter und gesellte sich zu den beiden. Man hörte Gelächter. In der stillen Morgenluft schwebte es zu Luke herüber, und er genoss es. Aus dem Pausenraum von Ebene C hatte er oft das Lachen von Erwachsenen dringen hören, aber es hatte immer etwas Unheilvolles an sich gehabt, wie das Lachen von Orks in einer Tolkien-Geschichte. Die Männer, die hier lachten, hatten nie einen Haufen Kinder eingesperrt oder sie in einen Wassertank getunkt. Am Gürtel trugen sie keinen speziellen Taser, den sie Schockstock nannten.
Der Lokführer hatte eine Papiertüte in der Hand, die er dem Rangierer reichte. Dann trat dieser wieder auf den Boden. Während die Lok langsam den Ablaufberg hinunterrollte, zogen der Rangierer und der Stellwerker jeweils einen Donut aus der Tüte. Es waren große Donuts, mit Zucker bestäubt und wahrscheinlich mit Marmelade gefüllt. Luke knurrte der Magen.
Die beiden Männer gingen auf die Veranda, ließen sich auf den Schaukelstühlen nieder und mampften ihre Donuts. Luke wiederum wandte seine Aufmerksamkeit den auf Gleis 3 wartenden Waggons zu. Insgesamt waren es zwölf, die Hälfte davon geschlossen. Wahrscheinlich noch nicht genug für einen Zug, der bis nach Massachusetts fahren sollte, aber es konnten ja noch weitere von der anderen Seite des Bahnhofs dazukommen, wo etwa fünfzig Stück standen.
Inzwischen bog ein Sattelschlepper auf das Bahnhofsgelände ein und holperte quer über mehrere Gleise zu dem Wagen mit der Aufschrift STATE OF MAINE PRODUCTS. Ihm folgte ein Kleinbus, aus dem mehrere Männer stiegen. Sie machten sich daran, aus dem Güterwaggon Tonnen zu holen und in den Laster zu laden. Luke hörte, dass sie sich auf spanisch unterhielten, und konnte einige Wörter verstehen. Eine der Tonnen kippte um, Kartoffeln ergossen sich auf den Boden. Es folgten viel gutmütiges Gelächter und eine kurze Kartoffelschlacht. Luke beobachtete die Szene sehnsüchtig.
Der Stellwerker und der Rangierer beobachteten die Kartoffelschlacht von ihren Schaukelstühlen aus, dann gingen sie ins Stationsgebäude. Der Sattelschlepper fuhr davon, nun beladen mit frischen Knollen für McDonald’s oder Burger King. Ihm folgte der Kleinbus. Vorübergehend war der Güterbahnhof verlassen, aber dabei würde es wohl nicht lange bleiben; vielleicht wurde noch ein Waggon be- oder entladen, oder die Rangierlok würde dem Zug, der um zehn abfahren sollte, weitere Elemente hinzufügen.
Luke beschloss, seine Chance zu nutzen. Er trat hinter dem Güterwagen hervor, flitzte jedoch gleich wieder zurück, weil er sah, wie der Rangierlokführer mit dem Handy am Ohr an den Gleisen entlangging. Der Lokführer blieb einen Moment stehen, und Luke hatte schon Angst, er wäre entdeckt worden, aber offenbar war der Mann nur damit beschäftigt, seinen Anruf zu beenden. Er steckte das Telefon in die Brusttasche seines Overalls und ging an dem Wagen, hinter dem Luke sich versteckte, vorüber, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Dann stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und verschwand im Stationsgebäude.
Luke wartete nicht mehr, und diesmal schlenderte er auch nicht. Ohne auf die Schmerzen in seinem Rücken und seinen erschöpften Beinen zu achten, rannte er den Ablaufberg hinunter. Er sprang über Schienen und Bremsvorrichtungen, schlug Haken um Sensorpfosten. Zu dem Zug, der auf die Fahrt nach Portland, Portsmouth und Sturbridge wartete, gehörte ein roter geschlossener Waggon mit der Aufschrift SOUTHWAY EXPRESS. Durch die im Laufe seiner sichtlich vielen Dienstjahre aufgesprühten Graffiti waren die Wörter allerdings kaum mehr lesbar. Der Waggon war dreckig und nicht weiter bemerkenswert, hatte jedoch einen unleugbaren Vorteiclass="underline" Die Schiebetür an der Seite war nicht vollständig geschlossen. Vielleicht war die Lücke groß genug, dass ein magerer, verzweifelter Junge hindurchschlüpfen konnte.
Luke streckte sich nach einem verrosteten Handgriff und zog sich hoch. Die Lücke war tatsächlich breit genug, breiter als die Kuhle, die er unter dem Maschendrahtzaun am Institut gegraben hatte. Es kam ihm vor, als wäre das schon sehr, sehr lange her, beinahe in einem anderen Leben. Die Türkante schrammte über seinen malträtierten Rücken und seinen Hintern, wo er frisches Blut austreten spürte, doch dann war er drin. Der Wagen war zu etwa drei Vierteln gefüllt, und während er von außen absolut erbärmlich aussah, roch es drinnen ziemlich gut – nach Holz und Lack, nach Möbelpolitur und Motoröl.
Die Ladung bestand aus einem Mischmasch, das Luke an den Dachboden seiner Tante Lacey erinnerte. Allerdings war der Kram, den sie dort verwahrte, alt, während die Sachen hier alle neu waren. Links standen Rasentraktoren und Motorsensen, Laubbläser, Kettensägen und Kartons mit Autozubehör und Außenbordmotoren. Rechts waren Möbel aufgestapelt, teilweise in Kartons, hauptsächlich jedoch mit massenhaft schützender Folie mumifiziert. Seitlich war eine Pyramide aus Stehlampen aufgeschichtet, jeweils zu dritt in Luftpolsterfolie eingewickelt. Zu den Möbeln gehörten Stühle, Tische, kleine und größere Sofas. Luke trat zu einem Sofa, das nah an der Tür stand, und studierte den auf die Folie geklebten Lieferschein. Der Artikel (und vermutlich auch die restlichen Möbel) ging an ein Einrichtungsgeschäft namens Bender and Bowen in Sturbridge, Massachusetts.
Luke strahlte. Auf den Bahnhöfen von Portland und Portsmouth wurden offenbar einige Wagen abgekoppelt, aber der hier fuhr bis zum Ende der Strecke mit. Lukes Glückssträhne war noch nicht beendet.
»Irgendjemand da oben mag mich«, flüsterte er. Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter und sein Vater tot waren, und er dachte: Aber so sehr auch wieder nicht.
Als er einige der für Bender and Bowen bestimmten Kartons von der Seitenwand abrückte, sah er dahinter erfreut einen Haufen Möbeldecken liegen. Die rochen muffig, aber nicht schimmlig. Er kroch in den Zwischenraum und zog die Kartons wieder zu sich heran, so gut er konnte.