Endlich befand er sich an einem relativ sicheren Ort, er konnte sich auf einen weichen Haufen Decken legen, und er war erschöpft – nicht nur von seiner nächtlichen Flucht, sondern auch weil er vorher tagelang unruhig geschlafen hatte und seine Angst immer größer geworden war. Dennoch wagte er es noch nicht einzuschlafen. Einmal döste er trotzdem ein, doch dann hörte er das Rumpeln der nahenden Rangierlok und spürte, wie sich der Wagen ruckhaft in Bewegung setzte. Als er aufstand und durch den Türspalt spähte, sah er den Rangierbahnhof vorüberziehen. Im nächsten Moment blieb der Waggon so abrupt stehen, dass Luke beinahe umgefallen wäre. Ein metallisches Knirschen ließ vermuten, dass sein Waggon an einen anderen angekuppelt wurde.
Im Lauf der folgenden Stunde gab es weitere Erschütterungen, während der Zug mit der Nummer 4297 komplettiert wurde, um in den Süden von Neuengland und damit weg vom Institut zu fahren.
Weg hier, dachte Luke. Weg, weg, weg.
Mehrfach hörte er Männerstimmen, einmal ziemlich nahe, aber es herrschte so viel Lärm, dass er nichts verstand. Luke lauschte und biss an seinen Fingernägeln, die bereits bis zum Nagelbett abgekaut waren. Ob da wohl über ihn gesprochen wurde? Er erinnerte sich daran, dass der Lokführer vorhin telefoniert hatte. Wenn Maureen nun alles ausgeplappert hatte? Oder wenn man auch nur entdeckt hatte, dass er verschwunden war? Wenn einer von Mrs. Sigsbys Handlangern – wahrscheinlich Stackhouse – beim Rangierbahnhof angerufen und gesagt hatte, man solle alle abfahrbereiten Waggons durchsuchen? Falls man das tat, würde man dann wohl mit den Waggons anfangen, deren Seitentür leicht offen stand? War das nicht sonnenklar?
Dann wurden die Stimmen leiser und verstummten. Das Ruckeln und Wummern setzte sich fort, während Nummer 4297 immer länger und schwerer wurde. Lastwagen kamen und fuhren davon. Ab und zu hupte es, wobei Luke jedes Mal zusammenzuckte. Er hätte liebend gern gewusst, wie spät es war, aber woher denn auch. Er konnte nur warten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte der Lärm auf. Nichts geschah. Luke begann wieder einzudösen und hatte es fast geschafft, als der stärkste Donnerschlag von allen den Waggon erschütterte und ihn zur Seite schleuderte. Eine Pause entstand, dann setzte der Zug sich in Bewegung.
Luke schlängelte sich aus seinem Versteck und krabbelte zu dem Türspalt. Gerade als er hinausspähte, glitt das grün gestrichene Stationsgebäude vorüber. Der Stellwerker und der Rangierer saßen in ihren Schaukelstühlen, jeder mit einem Teil der Tageszeitung. Zug Nummer 4297 rumpelte über eine letzte Weiche und rollte an einer Reihe verlassener Gebäude vorbei. Als Nächstes kamen ein mit Unkraut überwucherter Baseballplatz, eine Müllkippe, eine Menge unbebaute Grundstücke. Der Zug fuhr an einem Trailer-Park vorbei, in dem Kinder spielten.
Einige Minuten später bekam Luke das Ortszentrum von Dennison River Bend zu Gesicht. Er sah Läden, Straßenlaternen, Schrägparkplätze, Gehsteige, eine Shell-Tankstelle. Ein schmutziger weißer Pick-up wartete darauf, dass der Zug vorüberfuhr. Das alles kam Luke genauso unglaublich vor wie einige Stunden zuvor der Anblick der Sterne über dem Fluss. Er war draußen. Hier gab es keine MTAs, keine Pfleger, keine Münzautomaten, wo Kinder Alkohol und Zigaretten kaufen konnten. Während der Zug in eine leichte Kurve fuhr, stützte Luke sich mit den Händen an die Wand und scharrte mit den Füßen. Er war zu müde, sie anzuheben, weshalb es ein ausgesprochen kümmerlicher Siegestanz war, aber es war trotzdem einer.
23
Sobald die Stadt nicht mehr zu sehen war, abgelöst von dichtem Wald, schlug die Erschöpfung über Luke zusammen. Es war, wie unter einer Lawine begraben zu werden. Er krabbelte wieder hinter die Pappkartons und legte sich zuerst auf den Rücken – seine übliche Schlafposition–, drehte sich dann jedoch auf den Bauch, weil die Kratzwunden an den Schultern und am Hintern aufbegehrten. Worauf er sofort einschlief. Er verschlief den Halt in Portland und den in Portsmouth, obwohl der Zug jedes Mal ruckelte, wenn einige alte Wagen abgekoppelt und andere hinzugefügt wurden. Selbst als der Zug in Sturbridge hielt, wachte er nicht auf. Er kam erst mühsam zu Bewusstsein, als rasselnd die Tür seines Wagens aufging und das heiße Licht eines späten Julinachmittags eindrang.
Zwei Männer kletterten herein und machten sich daran, die Möbel in einen Lastwagen zu verladen, der rückwärts an der Tür stand – zuerst die Sofas, dann die Lampentrios, dann die Stühle. Bald würden sie mit den Kartons anfangen, und dann war Luke geliefert. In der hinteren Ecke war zwar genügend Platz, sich hinter den Rasentraktoren und den anderen Geräten zu verstecken, aber sobald er dahin flitzte, würde man ihn ebenfalls entdecken.
Einer der Männer kam näher. Er war schon so nah, dass Luke sein Aftershave riechen konnte, als jemand draußen rief: »He, Leute, es gibt ’ne Verzögerung beim Lokwechsel. Lange wird es nicht dauern, aber ihr habt Zeit für einen Kaffee, wenn ihr wollt.«
»Wie wär’s mit ’nem Bier?«, sagte der Mann, der drei Sekunden später Luke auf seinem Bett aus Möbeldecken hätte liegen sehen.
Man hörte Gelächter, dann zogen die Männer ab. Luke krabbelte aus seinem Versteck und humpelte auf steifen, schmerzenden Beinen zur Tür. Hinter der Kante des Lasters, der beladen wurde, sah er drei Männer auf das Stationsgebäude zugehen. Es war rot anstatt grün gestrichen und viermal so groß wie das von Dennison River Bend. Auf dem Schild davor stand: STURBRIDGE MASSACHUSETTS.
Luke überlegte, ob er sich durch die Lücke zwischen dem Güterwagen und dem Laster schieben sollte, aber auf dem Bahnhof herrschte viel Betrieb. Es sah allerhand Arbeiter (und einige Arbeiterinnen), die sich zu Fuß oder in Fahrzeugen hin und her bewegten. Man würde ihn sehen, man würde ihn ausfragen, und er wusste, dass er in seinem momentanen Zustand nicht in der Lage war, glaubhaft seine Geschichte zu erzählen. Er nahm undeutlich wahr, dass er Hunger hatte, und deutlicher, dass es in seinem lädierten Ohr pochte, aber beides verblasste gegenüber seinem Bedürfnis nach mehr Schlaf. Vielleicht wurde sein Güterwagen auf ein Nebengleis verschoben, sobald die Möbel ausgeladen waren, und wenn es dunkel war, könnte er sich auf die Suche nach der nächsten Polizeistation machen. Bis dahin war er wahrscheinlich in der Lage, seine Situation zu erklären, ohne wie ein Verrückter zu klingen. Oder wenigstens nicht wie ein komplett Verrückter. Glauben würde man ihm möglicherweise nicht, aber man würde ihm bestimmt etwas zu essen geben und vielleicht auch ein Paracetamol für sein pochendes Ohr. Seine Trumpfkarte bestand darin, von seinen Eltern zu erzählen. Das war etwas, was man nachprüfen konnte, und dann würde man ihn nach Minneapolis zurückschicken. Was selbst dann gut war, wenn es bedeutete, dass er in irgendein Kinderheim kam. Dort würde es zwar Schlösser an den Türen geben, aber keinen Wassertank.
Massachusetts war ein ausgezeichneter Anfang; er hatte Glück gehabt, so weit zu kommen, aber es lag immer noch zu nah am Institut. Minneapolis hingegen war seine Heimat. Dort kannte er allerhand Leute. Bestimmt glaubte Mr. Destin ihm. Oder Mr. Greer von seiner Schule. Oder…
Jemand anderes fiel ihm nicht mehr ein. Er war zu müde. Nachzudenken war wie der Versuch, durch ein mit Fett verschmiertes Fenster zu blicken. Er ließ sich auf alle viere nieder, krabbelte zur hinteren rechten Ecke des Wagens, spähte zwischen zwei Bodenfräsen hindurch und wartete darauf, dass die Männer aus dem Laster wiederkamen, um die restlichen Möbel für Bender and Bowen auszuladen. Möglicherweise entdeckten sie ihn trotzdem, das war ihm völlig klar. Es waren Männer, und Männer inspizierten liebend gern alles, was einen Motor hatte. Vielleicht wollten sie sich die Rasentraktoren oder die Motorsensen anschauen. Oder sie wollten nachschauen, wie viel PS die neuen Außenbordmotoren hatten – die steckten zwar in Kisten, aber die Informationen befanden sich sicher auf den Lieferscheinen. Er würde warten, würde sich klein machen, würde hoffen, dass sein bereits reichlich strapaziertes Glück sich noch ein bisschen mehr strapazieren ließ. Und wenn man ihn nicht entdeckte, würde er sich wieder schlafen legen.