Aber Luke wartete und beobachtete nicht. Sobald er den Kopf auf den Arm gelegt hatte, war er in wenigen Minuten eingeschlafen. Er schlief, als die beiden Männer wiederkamen und ihre Arbeit abschlossen. Er schlief, als einer von ihnen keine eineinhalb Meter von der Stelle entfernt, wo Luke sich zusammengerollt hatte, einen Rasentraktor von John Deere begutachtete. Er schlief, als die beiden verschwanden und ein Bahnhofsarbeiter die Tür des Güterwagens zuschob, diesmal vollständig. Er schlief, während es rumpelte und polterte, als neue Wagen angehängt wurden, und er regte sich nur minimal, als man die Lokomotive austauschte. Dann schlief er wieder tief und fest, wie es sich für einen zwölfjährigen Flüchtling, der malträtiert und verwundet und terrorisiert worden war, gehörte.
Die bisherige Lokomotive konnte höchstens vierzig Wagen ziehen. Die neue hätte Vic Destin als eine GE AC6000CW identifiziert, wobei 6000 für die PS-Leistung stand, zu der sie fähig war. Es war eine der stärksten Dieselloks, die derzeit in Amerika eingesetzt wurden, und sie konnte einen mehr als eine Meile langen Zug ziehen. Als der Expresszug Nr. 9956 Sturbridge verließ, um erst nach Südosten und dann direkt nach Süden zu fahren, bestand er aus siebzig Waggons.
Der Wagen von Luke war jetzt weitgehend leer und würde das bleiben, bis der 9956 in Richmond in Virginia hielt, wo zwei Dutzend Heimgeneratoren Marke Kohler eingeladen werden sollten. Die meisten dieser Geräte gingen nach Wilmington, aber zwei davon – sowie der gesamte Kram, hinter dem Luke schlief – waren für die Maschinenhandlung Fromie in der kleinen Stadt DuPray in South Carolina bestimmt. Dort hielt der 9956 dreimal pro Woche.
Große Ereignisse haben manchmal kleine Ursachen.
DIE HÖLLE WARTET
1
Während der Zug mit der Nummer 4297 den Güterbahnhof von Portsmouth, New Hampshire, in Richtung Sturbridge verließ, studierte Mrs. Sigsby gerade die Akten und den darin dokumentierten BDNF-Spiegel von zwei Kindern, die in Kürze im Institut wohnen würden. Eines war männlich, eines weiblich. Team Ruby Red würde sie noch am Abend herbringen. Der Junge, zehn Jahre alt und aus Sault Ste. Marie, hatte lediglich einen BDNF-Spiegel von 80. Das Mädchen, vierzehn und aus Chicago, lag bei 86. Laut den Unterlagen war sie Autistin. Daher würde der Umgang mit ihr schwierig sein, sowohl für das Personal als auch für die anderen Gäste. Hätte ihr BDNF-Spiegel unter 80 gelegen, so hätte man womöglich auf sie verzichtet. Aber 86 war ein überragender Wert.
BDNF war die internationale Abkürzung für Brain-Derived Neurotrophic Factor (vom Gehirn stammender neurotropher Faktor). Von den chemischen Aspekten verstand Mrs. Sigsby nur sehr wenig, das war die Domäne von Dr. Hendricks, aber über die Grundlagen wusste sie Bescheid. Wie der BMR – Basal Metabolic Rate (basale Stoffwechselrate, auch Grundumsatz genannt) – war der BDNF eine Art Größenordnung. Sie bemaß die Wachstums- und Überlebensrate der Neuronen im gesamten Körper und vor allem im Gehirn.
Die wenigen Personen, die einen hohen BDNF-Spiegel hatten, was auf nicht einmal ein halbes Prozent der Bevölkerung zutraf, waren die glücklichsten Menschen auf der Welt. Laut Hendricks waren sie das, was Gott im Sinn hatte, als er den Menschen schuf. Sie litten nur selten unter Gedächtnisverlust, Depression und Neuralgien. Auch zu Adipositas und extremen Essstörungen wie Anorexie und Bulimie neigten sie kaum. Sie kamen gut mit anderen Menschen aus (das angekündigte Mädchen war eine seltene Ausnahme), sie schlichteten Konflikte eher, als dass sie welche vom Zaun brachen (in der Hinsicht war Nick Wilholm eine seltene Ausnahme), sie waren nur wenig empfänglich für psychische Probleme wie Zwangsstörungen, und sie verfügten über eine hohe sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Außerdem bekamen sie weniger Kopfschmerzen und litten praktisch nie an Migräne. Egal was sie aßen, blieb ihr Cholesterinspiegel niedrig. Ihr Schlafzyklus war unterdurchschnittlich oder schlecht, aber sie kompensierten das nicht durch Medikamente, sondern indem sie tagsüber ab und zu ein Schläfchen machten.
Obgleich der BDNF nicht grundsätzlich empfindlich war, konnte er geschädigt werden, manchmal sogar katastrophal. Die häufigste Ursache war etwas, was Hendricks als Chronisch-traumatische Enzephalopathie, kurz CTE, bezeichnete. Soweit Mrs. Sigsby begriff, wurde diese durch häufige Schläge an den Schädel hervorgerufen. Durchschnittlich betrug der BDNF-Spiegel 60 Zellen pro Millimeter; bei professionellen Footballspielern, die zehn Jahre aktiv waren und normalerweise mit Mitte dreißig darauf untersucht wurden, lag er manchmal nur in den Zwanzigern. Durch den normalen Alterungsprozess nahm der Faktor langsam ab, bei Alzheimerpatienten wesentlich schneller. Für Mrs. Sigsby hatte das alles keinerlei Bedeutung, da sie lediglich den Auftrag hatte, Resultate zu erzielen, und in ihren Jahren am Institut waren die Resultate gut gewesen.
Von Bedeutung für Mrs. Sigsby, für das Institut und für die Leute, die es finanzierten, war hingegen etwas, was man seit 1955 streng geheim hielt. Kinder mit einem hohen BDNF-Spiegel verfügten über gewisse paranormale Fähigkeiten: TK, TP und (in seltenen Fällen) eine Kombination davon. Von diesen Fähigkeiten wussten die Kinder selbst manchmal gar nichts, weil diese Talente normalerweise nur latent vorhanden waren. Jene, die Bescheid wussten – meist hochfunktionale TPs wie Avery Dixon – waren manchmal in der Lage, ihr Talent einzusetzen, wenn es ihnen nützlich erschien; die übrige Zeit ignorierten sie es.
Praktisch alle Neugeborenen wurden automatisch auf ihren BDNF-Spiegel getestet. Kinder wie jene, deren Akten Mrs. Sigsby gerade studierte, wurden vom Institut registriert, beobachtet und irgendwann gekidnappt. Dort wurden ihre noch wenig entwickelten paranormalen Fähigkeiten verfeinert und verstärkt. Laut Dr. Hendricks konnten diese Talente auch erweitert werden, TP mit TK und umgekehrt. Dieser Vorgang hatte jedoch keinerlei Bedeutung für die Mission des Instituts und damit dessen Daseinszweck. Der gelegentliche Erfolg, den Hendricks mit den Pinks hatte, die man ihm als Versuchskaninchen überließ, würde nie irgendwo dokumentiert werden. Darüber war Donkey Kong sicher traurig, obwohl ihm klar sein musste, dass er bei einer Veröffentlichung in einer medizinischen Fachzeitschrift nicht den Nobelpreis ergattern, sondern in einem Hochsicherheitsgefängnis landen würde.
Jemand klopfte der Form halber an die Tür, dann steckte Rosalind den Kopf herein. »Tut mir leid, dass ich Sie störe, Ma’am«, sagte sie mit bedauernder Miene. »Fred Clark möchte mit Ihnen sprechen. Er macht…«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge. Wer ist Fred Clark?« Mrs. Sigsby nahm ihre Lesebrille ab und rieb sich die Seiten ihrer Nase.
»Einer von den Hausmeistern.«
»Stellen Sie fest, was er will, und erzählen Sie’s mir später. Falls wieder Mäuse an den Stromleitungen knabbern, kann das warten. Ich bin beschäftigt.«
»Er sagt, es ist wichtig, und er macht einen richtig bestürzten Eindruck.«
Mrs. Sigsby seufzte, klappte den Aktendeckel zu und legte ihn in eine Schublade. »Na gut, schicken Sie ihn herein. Aber gnade ihm, wenn er keinen guten Grund hat.«
Der Grund war gut, ganz im Gegensatz zu dem, was passiert war. Das war ausgesprochen schlecht.
2
Mrs. Sigsby erkannte Clark gleich wieder; sie war ihm oft auf den Fluren begegnet, mit einem Besen oder einem Mopp in den Händen. So jedoch hatte sie ihn noch nie gesehen. Er war totenbleich, sein graues Haar war so verworren, als ob er daran gezerrt hätte, und sein Mund zuckte leicht.