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»Was ist denn los, Clark? Sie sehen aus, als wären Sie einem Gespenst begegnet.«

»Sie müssen mitkommen, Mrs. Sigsby. Sich das ansehen.«

»Was denn?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie müssen mitkommen«, wiederholte er.

Während sie mit ihm über den Weg zwischen dem Verwaltungsgebäude und dem Westflügel des Wohnheims ging, fragte sie ihn zweimal, worin das Problem denn genau bestehe, aber er schüttelte nur den Kopf und sagte jedes Mal, das müsse sie sich selbst ansehen. Ihr Ärger darüber, dass sie gestört worden war, wich einem Gefühl des Unbehagens. Ging es um eines von den Kindern? War ein Test danebengegangen wie bei diesem Harry Cross? Bestimmt nicht. Wenn es um ein Kind gegangen wäre, hätte jemand von den Pflegern, den MTAs oder den Ärzten es eher entdeckt als ein Hausmeister.

In der Mitte des weitgehend menschenleeren Flurs im Westflügel beäugte ein Junge, dem der Bauch aus dem schlampig in die Hose gesteckten T-Shirt hing, einen Zettel am Knauf einer geschlossenen Zimmertür. Als er Mrs. Sigsby kommen sah, blickte er erschrocken drein. Also genau so, wie er nach ihrer Auffassung dreinblicken sollte.

»Whipple, nicht wahr?«

»Jep.«

»Was hast du da gerade zu mir gesagt?«

Während er über die Frage nachdachte, kaute Stevie an seiner Unterlippe. »Ja, Mrs. Sigsby.«

»Besser. Mach jetzt, dass du fortkommst. Falls du nicht zu irgendeinem Test musst, such dir eine Beschäftigung.«

»Okay. Ich meine: Jawohl, Mrs. Sigsby.«

Stevie schlurfte davon, wenn auch nicht, ohne einen Blick über die Schulter zu werfen. Das sah Mrs. Sigsby nicht. Sie betrachtete den Zettel, den man an den Türknauf gehängt hatte. NICHT EINTRETEN war darauf geschrieben, wahrscheinlich mit dem Kugelschreiber, der in einer von Clarks Brusttaschen steckte.

»Ich hätte abgeschlossen, wenn ich den Schlüssel gehabt hätte«, sagte Fred Clark.

Die Hausmeister hatten Schlüssel für die verschiedenen Abstellkammern auf Ebene A und für die Verkaufsautomaten, damit sie die auffüllen konnten, aber keine Schlüssel zu den Untersuchungsräumen und den Zimmern der Insassen. Letztere waren ohnehin nur selten abgeschlossen, außer wenn irgendein Nichtsnutz Unsinn angestellt hatte und zur Strafe einen Tag lang eingesperrt werden musste. Karten zum Betrieb der Aufzüge hatten die Hausmeister ebenfalls nicht. Wenn sie etwas auf einer unteren Ebene zu erledigen hatten, mussten sie sich einen Pfleger oder MTA suchen, der mit ihnen hinunterfuhr.

»Wenn der Dicke da reingegangen wäre«, sagte Clark, »hätte er den größten Schock seines jungen Lebens gekriegt.«

Ohne etwas zu erwidern, öffnete Mrs. Sigsby die Tür und sah ein leeres Zimmer – keine Bilder oder Poster an den Wänden, nichts auf dem Bett als eine nackte Matratze. Kein Unterschied zu vielen Wohnheimzimmern in den letzten zwölf oder dreizehn Jahren, seit der einst so starke Zustrom von Kindern mit hohem BDNF zu einem Rinnsal geworden war. Dr. Hendricks hatte die Theorie entwickelt, dass der hohe BDNF-Spiegel allmählich aus dem menschlichen Erbgut verschwand wie bestimmte andere Eigenschaften, zum Beispiel ein gutes Seh- und Hörvermögen. Oder, wie er so gern sagte, die Fähigkeit, mit den Ohren zu wackeln. Was vielleicht ein Witz war, aber nicht unbedingt. Bei Donkey Kong konnte man sich da nie ganz sicher sein.

Sie drehte sich zu Fred Clark um.

»Es ist im Badezimmer«, sagte er. »Ich hab zur Sicherheit die Tür zugemacht.«

Als Mrs. Sigsby die besagte Tür aufgezogen hatte, stand sie mehrere Sekunden lang stocksteif da. In ihrer Zeit als Chefin des Instituts hatte sie schon eine Menge erlebt, unter anderem den Suizid eines Insassen und Suizidversuche von zwei weiteren, aber bei jemand vom Personal hatte sie so etwas noch nie gesehen.

Die Haushälterin (erkennbar an ihrer braunen Uniform) hatte sich am Duschkopf erhängt, der unter dem Gewicht von jemand Schwererem – wie dem dicken Whipple, den Mrs. Sigsby gerade weggescheucht hatte – sicher abgebrochen wäre. Das tote Gesicht, das aus der Dusche starrte, war schwarz und angeschwollen. Zwischen den Lippen ragte die Zunge heraus, als wollte sie Mrs. Sigsby verhöhnen. Auf den Fliesen stand in krakeligen Buchstaben eine Abschiedsbotschaft.

»Das ist Maureen«, sagte Fred Clark mit leiser Stimme. Er zog ein zusammengeknülltes Taschentuch aus der Gesäßtasche seiner Arbeitshose und wischte sich damit die Lippen ab. »Maureen Alvorson. Sie…«

Mrs. Sigsby überwand ihre Schockstarre und sah sich nach hinten um. Die Tür zum Flur stand offen. »Zumachen.«

»Sie…«

»Machen Sie die Tür da zu!«

Der Hausmeister gehorchte. Mrs. Sigsby griff in die rechte Tasche ihrer Kostümjacke, aber die war leer. Scheiße, dachte sie. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Was für ein Leichtsinn, das Funkgerät nicht einzustecken, aber wer hätte wissen können, dass sie so etwas erwartete?

»Gehen Sie in mein Büro zurück. Sagen Sie Rosalind, sie soll Ihnen mein Walkie-Talkie geben. Bringen Sie es her.«

»Aber…«

»Klappe.« Sie wandte sich ihm zu. Ihr Mund war zu einem dünnen Schlitz geworden, und als Fred sah, wie ihre Augen in dem hageren Gesicht hervortraten, wich er einen Schritt zurück. Sie sah aus, als wäre sie verrückt geworden. »Ab mit Ihnen, und zwar zackig. Und kein Wort zu irgendjemand über das hier!«

»Ja, natürlich.«

Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Mrs. Sigsby setzte sich auf die nackte Matratze und betrachtete die Frau, die am Duschkopf hing. Und die Botschaft, die mit dem Lippenstift geschrieben worden war, den Mrs. Sigsby jetzt vor der Toilettenschüssel liegen sah.

AUF EUCH WARTET DIE HÖLLE. DA SEHEN WIR UNS WIEDER.

3

Stackhouse befand sich in der Personalsiedlung des Instituts, und als er sich meldete, hörte er sich angeschlagen an. Wahrscheinlich hatte er sich abends im Outlaw Country volllaufen lassen, aber anstatt ihm das unter die Nase zu reiben, beorderte sie ihn lediglich in den Westflügel. Vor dem betreffenden Zimmer werde ein Hausmeister Wache halten.

Hendricks und Evans waren auf Ebene C, um Tests durchzuführen. Mrs. Sigsby forderte sie auf, alles stehen und liegen zu lassen und die Testpersonen in ihre Zimmer zu schicken. Sie würden beide im Westflügel gebraucht. Hendricks, der selbst in seinen besten Momenten extrem nervig sein konnte, wollte wissen, weshalb. Mrs. Sigsby machte ihm klar, dass er den Mund halten und herkommen sollte.

Stackhouse traf als Erster ein. Die beiden Ärzte waren direkt hinter ihm.

»Jim«, sagte Stackhouse zu Evans, nachdem er die Lage in Augenschein genommen hatte. »Heben Sie sie ein Stück an, damit das Seil nicht mehr so straff ist.«

Evans schlang die Arme um die Taille der Toten – einen Moment sah es fast so aus, als würde er mit ihr tanzen – und reckte sie ein Stück in die Höhe. Stackhouse machte sich daran, den Knoten am Hals zu lösen.

»Beeilung«, sagte Evans. »Sie hat in die Hose gekackt.«

»Bestimmt haben Sie schon Schlimmeres gerochen«, sagte Stackhouse. »Aber ich hab’s gleich… Moment… Okay, das war’s.«

Er hob die Schlinge über den Kopf der Toten und stieß einen leisen Fluch aus, weil einer ihrer Arme ihm dabei vertraulich an den Nacken baumelte. Dann trug er sie zum Bett. Der Strick hatte ein schwarz-rotes Brandmal an ihrem Hals hinterlassen. Schweigend betrachteten die vier die Leiche. Mit seinen ein Meter neunzig war Trevor Stackhouse groß gewachsen, aber Hendricks überragte ihn um mindestens zehn Zentimeter. Dadurch wirkte Mrs. Sigsby, die zwischen den beiden stand, geradezu zwergenhaft.

Stackhouse sah sie mit gehobenen Augenbrauen an. Sie erwiderte den Blick, ohne etwas zu sagen.

Auf dem Nachttisch neben dem Bett stand ein braunes Pillenglas. Dr. Hendricks nahm es in die Hand und schüttelte es. »Oxycodon. Vierzig Milligramm. Nicht die höchste Dosierung, aber trotzdem ziemlich hoch. Das Rezept ist für neunzig Tabletten, und es sind nur noch drei übrig. Ich nehme an, dass wir keine Autopsie vornehmen werden…«