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Sie dachte darüber nach, was Entropie bedeutete. Nämlich die Neigung, die Zügel locker zu lassen, wenn es gut lief.

Und sich auf Spekulationen zu verlassen.

»Mrs. Sigsby? Julia? Haben Sie einen Auftrag für mich?«

Sie kam ins Hier und Jetzt zurück. »Ja. Ich will alles über die Frau da wissen, und falls tatsächlich gerade niemand im Überwachungsraum ist, will ich dort so schnell wie möglich jemand haben. Jerry, würde ich sagen.« Jerry Symonds war einer der beiden Computerspezialisten und konnte am besten mit dem veralteten System umgehen.

»Jerry ist in Urlaub«, sagte Stackhouse. »Der geht auf den Bahamas fischen.«

»Dann Andy.«

Stackhouse schüttelte den Kopf. »Fellowes ist momentan im Dorf. Ich hab ihn vorhin aus dem Laden kommen sehen.«

»Verdammt noch mal, der sollte eigentlich hier sein! Dann eben Zeke. Der hat doch schon mal im Überwachungsraum gearbeitet, oder?«

»Ich glaube, ja«, sagte Stackhouse, und da war es wieder. Unklarheit. Spekulation. Annahmen.

Verstaubte Kameragehäuse. Abgescheuerte Fußleisten. Sorgloses Geschwätz auf Ebene B. Der unbemannte Überwachungsraum.

Mrs. Sigsby beschloss spontan, dass ein paar große Änderungen anstanden, und zwar bevor das Laub sich verfärbte und von den Bäumen fiel. So zwecklos der Suizid von Maureen Alvorson auch war, er war ein Weckruf. Sie hatte zwar keine große Lust, mit dem Mann am anderen Ende des Nullfons zu sprechen – ihr lief es schon bei seinem gelispelten Gruß kalt über den Rücken (nie Sigsby, sondern Thigby)–, aber es war unvermeidbar. Ein schriftlicher Bericht würde nicht ausreichen. Das Institut verfügte über Zuträger im ganzen Land. Ein Privatjet stand auf Abruf bereit. Das Personal wurde gut bezahlt und bekam alle Sozialleistungen. Dennoch ähnelte diese Einrichtung immer mehr einem Ramschladen in einer kurz vor der Schließung stehenden Einkaufspassage. Das war schlicht irrsinnig. Die Dinge mussten sich ändern. Und sie würden sich ändern.

»Sagen Sie Zeke, er soll sämtliche Ortungschips überprüfen. Vergewissern wir uns, dass alle Insassen anwesend und lokalisierbar sind. Besonders interessieren mich Luke Ellis und Avery Dixon. Mit denen hat Alvorson sich bekanntlich häufig unterhalten.«

»Wir wissen doch, worüber da gesprochen wurde, und das war nichts Aufregendes.«

»Tun Sie einfach, was ich gesagt habe.«

»Gern. Sehen Sie doch inzwischen zu, dass Sie mal lockerlassen.« Er deutete auf die Leiche mit dem schwarz gewordenen Gesicht und der unverschämt herausragenden Zunge. »Betrachten Sie die Dinge doch mal nüchtern. Das war eine schwer kranke Frau, die ihr Ende kommen sah und die Notbremse gezogen hat, bevor der Krebs sie richtig in die Mangel nehmen konnte.«

»Überprüfen Sie, wo die Gäste sich befinden, Trevor. Wenn die alle da sind, wo sie hingehören – mit oder ohne gute Laune–, lasse ich locker.«

Was sie keineswegs tun würde. Sie hatte schon viel zu sehr lockergelassen.

5

Wieder in ihrem Büro sagte sie Rosalind, dass sie nicht gestört werden wolle, außer wenn Stackhouse oder Zeke Ionidis, der momentan auf Ebene D einen Anwesenheitscheck durchführe, sie sprechen wollten. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und betrachtete den Bildschirmschoner auf ihrem Monitor. Er zeigte einen weißen Sandstrand auf Siesta Key, von dem sie den Leuten erzählte, dass sie dort ihren Ruhestand verbringen wollte. Sich selbst redete sie das nicht mehr ein. Mrs. Sigsby erwartete definitiv, hier in den Wäldern von Maine zu sterben, möglicherweise in ihrem kleinen Haus im Dorf, eher jedoch an ihrem Schreibtisch. Zwei ihrer Lieblingsautoren, Thomas Hardy und Rudyard Kipling, waren an ihrem Schreibtisch gestorben, weshalb sollte sie es ihnen nicht gleichtun? Das Institut war zu ihrem Leben geworden, und das war okay für sie.

Für die meisten Mitglieder des Personals galt dasselbe. Früher waren sie Soldaten, Mitarbeiter bei Hardcore-Sicherheitsunternehmen wie Blackwater und Tomahawk Global oder Beamte einer Strafverfolgungsbehörde gewesen. Denny Williams und Michelle Robertson von Team Ruby Red hatten beim FBI gearbeitet. Falls das Institut nicht schon von Anfang an ihr Leben gewesen war, als sie nach ihrer Rekrutierung eintrafen, so war es dazu geworden. Das lag nicht an der Bezahlung und auch nicht an den Sozialleistungen oder der flexiblen Ruhestandsregelung. Teilweise lag es an der Lebensweise, die solchen Leuten so vertraut war, dass sie sich geradezu schlafwandlerisch einfügten. Das Institut war wie ein kleiner Militärstützpunkt; in der als Dorf bezeichneten Siedlung gab es sogar einen subventionierten Laden, wo sie billig alles Mögliche einkaufen und ihre Pkws und Pick-ups auftanken konnten. Normalbenzin kostete zwanzig Cent pro Liter, Super dreiundzwanzig Cent. Mrs. Sigsby war eine Weile auf der Ramstein Air Base in Deutschland stationiert gewesen, und Dennison River Bend erinnerte sie – natürlich in wesentlich kleinerem Maßstab – an Kaiserslautern, wo sie mit ihren Freunden hingefahren war, um Dampf abzulassen. In Ramstein hatte es zwar alles vor Ort gegeben, sogar ein Multiplex und eine Filiale von Johnny Rockets, aber manchmal wollte man trotzdem einfach mal raus. So war es auch hier.

Aber sie kommen immer zurück, dachte Mrs. Sigsby, während sie den Strand betrachtete, den sie manchmal im Urlaub aufsuchte, wo sie aber niemals leben würde. Sie kommen immer zurück, und egal wie viel Nachlässigkeit hier inzwischen Einzug gehalten hat, sie plaudern nichts aus. In der Hinsicht sind sie nie nachlässig. Denn wenn man herausfände, was wir hier tun, wenn man von den Hunderten Kindern wüsste, die wir zerstört haben, dann würde man uns scharenweise vor Gericht stellen und hinrichten. Uns die Giftspritze verpassen wie Timothy McVeigh.

Das war die Schattenseite des Ganzen. Die Sonnenseite war simpeclass="underline" Alle Mitglieder des Personals, von dem oft nervigen, aber zweifellos tüchtigen Dr. Dan »Donkey Kong« Hendricks über die Hinterbau-Docs Heckle und Jeckle bis hinunter zu dem bescheidensten Hausmeister, waren sich bewusst, dass nichts weniger als das Schicksal der Welt in ihren Händen lag, so wie es in den Händen derer gelegen hatte, die vor ihnen gekommen waren. Nicht nur das Überleben der Menschheit, sondern das der ganzen Erde. Sie wussten, dass es keine Grenzen für das gab, was sie tun konnten und tun würden, um diesem Zweck zu dienen. Niemand, der das Werk des Instituts voll und ganz verstanden hatte, konnte es für monströs halten.

Das Leben hier war gut – jedenfalls gut genug, besonders für Männer und Frauen, die im Nahen Osten Sand gefressen hatten. Die ihre Kameraden in irgendwelchen beschissenen Dörfern hatten liegen sehen, mit abgerissenen Beinen oder heraushängenden Eingeweiden. Gelegentlich hatten sie Urlaub; dann konnten sie heimfahren und etwas Zeit mit ihrer Familie verbringen, vorausgesetzt, sie hatten eine (was auf viele vom Personal nicht zutraf). Natürlich konnten sie mit der nicht darüber sprechen, was sie hier taten, und nach einer Weile merkten ihre Angehörigen – ihre Frauen, Männer, Kinder–, dass es der Job war, der zählte, nicht sie. Weil dieser Job von einem Besitz ergriff. Das Leben bestand allmählich nur noch aus – in absteigender Reihenfolge – dem Institut, dem Dorf und der Stadt Dennison River Bend mit ihren drei Kneipen, von denen sich eine durch live dargebotene Countrymusic auszeichnete. Sobald sich diese Erkenntnis einstellte, legte man meistens den Ehering ab, wie Alvorson es getan hatte.

Mrs. Sigsby schloss die unterste Schublade ihres Schreibtischs auf und nahm ein Telefon heraus, das so ähnlich aussah wie diejenigen, die von den Extraktionsteams verwendet wurden: groß und klobig, wie ein Flüchtling aus der Zeit, als der Kassettenrekorder vom CD-Player abgelöst wurde und Mobiltelefone gerade erst in den Elektronikgeschäften auftauchten. Man nannte es manchmal das Grüne Telefon wegen seiner Farbe, öfter jedoch das Nullfon, weil es kein Display und keine richtigen Tasten aufwies, nur drei kleine, weiße, runde Tasten.