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Ich werde anrufen, dachte sie. Vielleicht lobt man mich, weil ich vorausdenke, und gratuliert mir zu meiner Initiative. Vielleicht ist man aber auch der Meinung, dass ich Gespenster sehe und es Zeit wird, über meine Ablösung nachzudenken. Anrufen muss ich so oder so. Die Pflicht ruft, und das hätte ich schon längst tun sollen.

»Aber nicht heute«, murmelte sie.

Nein, noch nicht heute, nicht solange sich noch jemand um Alvorson kümmern (beziehungsweise sie entsorgen) musste. Vielleicht nicht einmal morgen oder in dieser Woche. Was sie im Sinn hatte, war keine Kleinigkeit. Sie musste sich erst einmal Notizen machen, damit sie sich dann, wenn sie schließlich anrief, so präzise wie möglich ausdrücken konnte. Wenn sie das Nullfon wirklich zum Einsatz bringen wollte, war es unerlässlich, kurz und klar zu antworten, sobald sie den Mann am anderen Ende sagen hörte: Hallo, Mithith Thigby, wie kann ich behilflich thein?

Damit schiebe ich die Sache schließlich nicht auf die lange Bank, sagte sie sich. Absolut nicht. Außerdem will ich zwar nicht, dass jemand Probleme bekommt, aber…

Die Gegensprechanlage gab ein leises Summen von sich. »Zeke will mit Ihnen sprechen, Mrs. Sigsby. Leitung drei.«

Mrs. Sigsby hob den Telefonhörer ab. »Na, was haben Sie für mich, Ionidis?«

»Alle sind vollzählig«, sagte er. »Achtundzwanzig Ortungssignale im Hinterbau. Im Vorderbau sind zwei Kids im Aufenthaltsraum, sechs auf dem Spielplatz, fünf in ihren Zimmern.«

»Sehr gut. Vielen Dank.«

»Gern geschehen, Ma’am.«

Mrs. Sigsby stand auf. Sie fühlte sich jetzt ein bisschen besser, obwohl sie nicht ganz genau wusste, weshalb. Natürlich waren alle Insassen an Ort und Stelle. Was hatte sie da eigentlich erwartet – dass sich ein paar von denen nach Disney World verkrümelt hatten?

Na dann, auf zum nächsten Punkt.

6

Sobald alle Insassen beim Mittagessen saßen, schob Fred der Hausmeister einen aus der Küche geborgten Transportwagen zu der Tür des Zimmers, in dem Maureen Alvorson ihr Leben beendet hatte. Gemeinsam mit Stackhouse wickelte er sie in eine grüne Plane und rollte sie im Laufschritt den Flur entlang. Von weiter weg drang der Lärm der Tierfütterung zu ihnen, aber hier war absolut niemand. Nur einen Teddybären hatte jemand vor der Aufzugnische auf dem Boden liegen lassen. Der starrte mit seinen glasigen Knopfaugen an die Decke. Fred kickte ihn ärgerlich weg.

Stackhouse sah ihn vorwurfsvoll an. »Na hören Sie mal! Das ist das Kuscheltier von einem Kind.«

»Ist mir schnuppe«, sagte Fred. »Die lassen immer ihren ganzen Scheiß liegen, und wir müssen ihn aufheben.«

Als die Aufzugtür aufging, wollte Fred den Wagen hineinschieben. Stackhouse stieß ihn zurück, und zwar nicht gerade sanft. »Ab hier sind Ihre Dienste nicht mehr erforderlich. Heben Sie den Teddy auf, und setzen Sie ihn irgendwo da in den Aufenthaltsraum, wo sein Besitzer ihn sehen kann, wenn er herauskommt. Und dann fangen Sie endlich damit an, die verfluchten Kuppeln abzustauben.« Er deutete auf eines der Kameragehäuse an der Decke, schob den Wagen selbst hinein und hielt seine Karte an den Scanner.

Fred Clark wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, bevor er ihm den Finger zeigte. Aber Befehl war Befehl, und er würde die Gehäuse reinigen. Irgendwann.

7

Mrs. Sigsby erwartete Stackhouse auf Ebene F. Es war kalt hier unten, deshalb trug sie einen Pullover über ihrer Kostümjacke. Sie nickte Stackhouse zu, der zurücknickte und den Wagen in den Tunnel zwischen Vorder- und Hinterbau schob. Mit seinem Betonboden, seinen gebogenen, mit Fliesen verkleideten Wänden und den Leuchtstoffröhren an der Decke war der Tunnel der Inbegriff der Zweckmäßigkeit. Einige der Röhren flackerten und verströmten eine Horrorfilmatmosphäre, andere brannten gar nicht mehr. Jemand hatte einen Autosticker mit dem Emblem der New England Patriots an die Wand geklebt.

Noch mehr Nachlässigkeit, dachte Mrs. Sigsby. Noch mehr Kursabweichung.

Die Tür am anderen Ende des Tunnels trug ein Schild mit der Aufschrift: ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE. Mrs. Sigsby hielt ihre Karte an den Scanner und drückte die Tür auf. Dahinter befand sich wieder ein Aufzug. Eine kurze Reise aufwärts führte die beiden in einen Aufenthaltsraum, der kaum weniger nüchtern war als der Tunnel, durch den sie in den Hinterbau gelangt waren. Heckle – eigentlicher Name Dr. Everett Hallas – erwartete sie bereits. Er trug ein breites Grinsen auf dem Gesicht und legte ständig den Zeigefinger an den Mundwinkel. Das erinnerte Mrs. Sigsby daran, wie der kleine Dixon sich zwanghaft an der Nase gezupft hatte, nur dass Dixon ein Kind war, Hallas hingegen Mitte fünfzig. Die Tätigkeit im Hinterbau forderte ihren Tribut, so ähnlich wie das Arbeiten in einer leicht radioaktiv verstrahlten Umgebung.

»Hallo, Mrs. Sigsby! Hallo, Sicherheitsdirektor Stackhouse! Wirklich wunderbar, Sie wiederzusehen! Wir sollten öfter mal zusammenkommen! Wobei ich die Umstände bedaure, die Sie heute hierhergeführt haben!« Er bückte sich und betätschelte die Plane, unter der Maureen Alvorson lag. Dann legte er den Finger an den Mundwinkel, als würde er ein Herpesbläschen betasten, das nur er sehen und spüren konnte. »Aus der Mitte des Lebens gerissen, und so weiter und so fort.«

»Wir sollten uns jetzt beeilen«, sagte Stackhouse. Was, wie Mrs. Sigsby vermutete, wohl heißen sollte, dass sie hier schleunigst wieder verschwinden sollten. Sie war völlig seiner Meinung. Das hier war der Ort, wo die eigentliche Arbeit geleistet wurde, und Dr. Heckle und Dr. Jeckle (eigentlicher Name Joanne James) waren Helden, weil sie dazu bereit waren, aber das machte es keineswegs leichter, hier zu sein. Mrs. Sigsby spürte bereits die Atmosphäre, die hier herrschte. Als befände man sich in einem schwachen elektrischen Feld.

»Ja, natürlich, es gibt immer was zu tun, ein Rädchen greift ins andere, große Flöhe haben kleine Flöhe, die sie beißen, weiß schon, bitte hier entlang!«

Aus dem Aufenthaltsraum mit seinen hässlichen Sesseln, dem gleichermaßen hässlichen Sofa und einem älteren Flachbildfernseher traten sie in einen Flur mit dickem, blauem Teppichboden – im Hinterbau fielen die Kinder manchmal hin und stießen sich den wertvollen kleinen Kopf an. In dem weichen Flor hinterließen die Räder des Wagens Spuren. Sonst sah es hier weitgehend wie in einem Flur auf der Wohnebene im Vorderbau aus, bis auf die Schlösser an den Türen, die alle verriegelt waren. Mrs. Sigsby hörte, wie jemand von innen an eine Tür hämmerte. »Lasst mich raus!«, rief eine gedämpfte Mädchenstimme. »Oder gebt mir wenigstens eine Aspirin, verdammt noch mal!«

»Iris Stanhope«, sagte Heckle. »Die fühlt sich heute leider nicht so wohl. Dafür halten sich mehrere von unseren Neuankömmlingen bemerkenswert gut. Wir zeigen heute Abend einen Film, wissen Sie? Und morgen gibt’s ein Feuerwerk.« Er kicherte und berührte wieder seinen Mundwinkel, womit er Mrs. Sigsby diesmal groteskerweise an Shirley Temple erinnerte.

Sie strich sich über die Haare, um sich zu vergewissern, dass die noch ordentlich saßen. Das taten sie natürlich. Was sie spürte – dieses leichte Summen an den entblößten Hautstellen und das Gefühl, dass ihre Augäpfel in den Höhlen vibrierten–, war keine Elektrizität.

Sie kamen am Vorführraum mit seinen rund ein Dutzend Plüschsesseln vorüber. In der ersten Reihe saßen Kalisha Benson, Nick Wilholm und George Iles. Sie trugen ihre rot-blauen Trikots. Die kleine Benson nuckelte an einer Zuckerzigarette, Wilholm rauchte eine echte. Sein Kopf war von grauen Rauchkringeln umgeben. Iles massierte sich leicht die Schläfen. Als die drei Erwachsenen mit ihrer eingehüllten Last vorbeikamen, drehten Benson und Iles sich zu ihnen um; Wilholm starrte einfach weiter auf die leere Leinwand. Dem hat man seinen Hitzkopf aber ganz schön abgekühlt, dachte Mrs. Sigsby befriedigt.