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Hinter dem Vorführraum lag auf der anderen Seite des Flurs der Eingang zur Cafeteria, die wesentlich weniger Platz bot als der Essbereich im Vorderbau. Hier hausten zwar immer mehr Kinder als dort, doch je länger sie im Hinterbau blieben, desto weniger aßen sie. Ein Literaturstudent hätte das wohl als ironisch bezeichnet. Momentan saßen drei Kinder da; zwei löffelten etwas, was nach Haferbrei aussah. Das dritte war ein etwa zwölfjähriges Mädchen, das einfach vor seinem vollen Teller saß. Als es den Transportwagen sah, hellte sich seine Miene auf.

»Hi! Was habt ihr denn da? Ist das eine Tote? Stimmt doch, oder? Hieß sie Morris? Das ist ein komischer Name für ein Mädchen. Vielleicht war es auch Morin. Darf ich sie sehen? Sind ihre Augen offen?«

»Das ist Donna«, sagte Heckle. »Achten Sie nicht auf sie. Heute Abend wird sie sich den Film ansehen, aber ich gehe davon aus, dass sie ziemlich bald weiterziehen wird. Vielleicht gegen Ende der Woche. Auf zu neuen Ufern und so weiter und so fort. Sie wissen ja Bescheid.«

Das tat Mrs. Sigsby. Es gab den Vorderbau, es gab den Hinterbau… und dann gab es noch den hinteren Teil vom Hinterbau. Die Endstation. Sie betastete wieder ihre Haare. Weiterhin an Ort und Stelle, was sonst. Sie dachte an das Dreirad, das sie als kleines Mädchen besessen hatte, an die warme Nässe von Urin in ihrer Hose, wenn sie damit vor der Garage auf und ab fuhr. Sie dachte an zerrissene Schnürsenkel. Sie dachte an ihr erstes Auto, einen…

»Es war ein Valium!«, schrie das Mädchen namens Donna. Sie sprang auf, wobei sie ihren Stuhl umstieß. Die anderen beiden Kinder beäugten sie stumpfsinnig; dem einen tropfte Haferbrei vom Kinn. »Ein Plymouth Valium, das weiß ich! O Gott, ich will nach Hause! O Gott, mach, dass das aufhört in meinem Kopf!«

Zwei Pfleger in roter Uniform erschienen von… Mrs. Sigsby konnte nicht sagen, von woher. Es war ihr auch egal. Die beiden packten das Mädchen an den Armen.

»Genau, bringt sie in ihr Zimmer zurück«, sagte Heckle. »Aber keine Pillen, ja? Wir brauchen sie heute Abend noch.«

Donna Gibson, die einst Mädchengeheimnisse mit Kalisha geteilt hatte, als die beiden noch im Vorderbau waren, wehrte sich schreiend. Als die Pfleger sie wegschleppten, streiften die Spitzen ihrer Sneakers über den Teppichboden. Die fragmentarischen Gedanken im Kopf von Mrs. Sigsby wurden erst schwächer und verblassten dann vollständig. Das Summen auf ihrer Haut blieb jedoch; sie spürte es jetzt sogar in ihren Zahnfüllungen. Hier drüben war das Summen allgegenwärtig wie das Sirren der Leuchtstoffröhren im Flur.

»Alles in Ordnung?«, fragte Stackhouse.

»Ja.« Hauptsache, sie kam bald hier raus.

»Ich spüre es auch. Falls das ein Trost sein sollte.«

War es nicht. »Trevor, können Sie mir eigentlich erklären, wieso Leichen, die ins Krematorium kommen, direkt durch den Wohnbereich der Kinder geschoben werden müssen?«

»Ich hab Bohnen in den Ohren«, erwiderte Stackhouse.

»Wie bitte?«, fragte Mrs. Sigsby. »Was haben Sie da gesagt?«

Stackhouse schüttelte den Kopf, wie um ihn frei zu bekommen. »Tut mir leid. Das ist mir irgendwie in den Kopf gekommen, und…«

»Ja, ja«, sagte Heckle. »Heute liegen allerhand… äh, sagen wir frei schwebende Übertragungen in der Luft.«

»Mir ist schon klar, was das war«, sagte Stackhouse. »Ich musste es bloß aussprechen, das ist alles. Es hat sich angefühlt, als…«

»Als würde man an einem Bissen würgen«, sagte Heckle nüchtern. »Die Antwort auf Ihre Frage von vorhin, Mrs. Sigsby, lautet: Das weiß niemand.« Er kicherte und betastete seinen Mundwinkel.

Wenn ich bloß bald hier rauskomme, dachte sie wieder. »Wo ist eigentlich Dr. James, Dr. Hallas?«

»In ihrer Wohnung. Sie fühlt sich heute leider nicht gut. Aber sie lässt Sie grüßen. Und hofft, dass Sie wohlauf sind, fit wie ein Turnschuh, kerngesund, und so weiter und so fort.« Er lächelte und spielte wieder Shirley Temple – bin ich nicht niedlich?

8

Im Vorführraum pflückte Kalisha Nicky die Zigarette aus den Fingern, nahm einen letzten Zug aus dem filterlosen Stummel, warf ihn auf den Boden und stellte den Fuß darauf. Dann legte sie Nicky den Arm um die Schultern. »Schlimm?«

»War schon schlimmer.«

»Durch den Film wird’s besser werden.«

»Jep. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Jedenfalls weiß ich jetzt, warum mein Dad immer so fies war, wenn er einen Kater hatte. Wie geht es dir, Sha?«

»Ganz gut.« Was stimmte. Bloß ein schwaches Pochen über dem linken Auge. Abends war es bestimmt verschwunden. Aber morgen würde es wieder da sein, und dann nicht mehr schwach. Morgen würde es ein Schmerz sein, im Vergleich zu dem der Kater von Nickys Dad (und gelegentlich auch der ihrer eigenen Eltern) bestimmt ein wahres Vergnügen gewesen war – unaufhörlich pochende Schläge, als wäre ein dämonischer Kobold in ihrem Kopf eingesperrt und würde auf die Schädelknochen einhämmern, um herauszukommen. Freilich würde selbst das nicht so schlimm sein, wie es sein konnte. Die Kopfschmerzen von Nicky waren schlimmer, die von Iris noch schlimmer, und es dauerte immer länger, bis sie verschwanden.

George hatte Glück; trotz seiner starken TK hatte er bisher beinahe keine Schmerzen gespürt. Bloß ein Ziehen in den Schläfen, hatte er erzählt, und hinten am Schädel. Aber auch bei ihm würde es schlimmer werden. Das wurde es immer, zumindest, bis es endlich vorüber war. Und dann? Station A. Das Summen. Der hintere Teil vom Hinterbau. Noch sehnte sich Kalisha nicht danach; die Vorstellung, als Person ausgelöscht zu werden, erfüllte sie mit Entsetzen, aber das würde sich ändern. Bei Iris war es bereits so weit, die sah die meiste Zeit aus wie ein Zombie aus The Walking Dead. Was Kalisha empfand, wenn sie an Station A dachte, hatte Helen Simms einmal ziemlich treffend formuliert: Alles ist besser als die Stass-Lichter und brutale Kopfschmerzen, die nie aufhören.

George beugte sich vor und blickte mit hellen Augen, die noch relativ schmerzfrei waren, an Nicky vorbei zu ihr herüber. »Aber er hat es nach draußen geschafft«, flüsterte er. »Konzentrier dich darauf. Und halt durch.«

»Das werden wir«, sagte Kalisha. »Stimmt doch, Nicky, oder?«

»Wir versuchen es«, sagte Nicky und brachte ein Lächeln zustande. »Dass ausgerechnet ein Typ, der derart mies Basketball spielt wie Luke Ellis, die Kavallerie holt, ist allerdings eine ziemlich abgedrehte Vorstellung.«

»Im Basketball ist er eine Niete, aber er spielt gut Schach«, sagte George. »Unterschätz ihn nicht.«

In der offenen Tür des Vorführraums tauchte einer von den rot gekleideten Pflegern auf. Ihre Kollegen im Vorderbau trugen Namensschildchen, doch das tat hier niemand. Hier waren die Pfleger austauschbar. Es waren auch keine MTAs da, nur die beiden für den Hinterbau zuständigen Ärzte und gelegentlich auch Dr. Hendricks: Heckle, Jeckle und Donkey Kong. Das Tödliche Trio. »Die Freizeit ist beendet«, sagte der Pfleger. »Wenn ihr nichts essen wollt, geht zurück in eure Zimmer.«

Der alte Nicky hätte diesem muskelbepackten Penner eventuell erklärt, dass er sich ins Knie ficken solle. Die neue Version von Nicky stand einfach auf, taumelte und hielt sich an einer Sessellehne fest, um das Gleichgewicht zu halten. Es brach Kalisha das Herz, ihn so zu sehen. Was man Nicky geraubt hatte, war in mancher Hinsicht schlimmer als Mord. In vielerlei Hinsicht.

»Komm«, sagte sie. »Wir gehen zusammen. Machen wir doch, George, oder?«

»Tja«, sagte George. »Eigentlich wollte ich mir heute Nachmittag mal wieder Jersey Boys reinziehen, aber wenn du darauf bestehst…«