Schaut her, dachte Kalisha. Hier kommen die drei abgeschlafften Musketiere.
Draußen auf dem Flur war das Summen wesentlich stärker. Ja, sie wusste, dass Luke draußen war, das hatte Avery ihr übermittelt, und das war gut. Diese selbstgefälligen Arschlöcher hatten noch keine Ahnung von seinem Verschwinden, was noch besser war. Trotzdem ließen die Kopfschmerzen die Hoffnung weniger hoffnungsvoll wirken. Selbst wenn sie nachließen, wartete Kalisha darauf, dass sie wiederkamen, was eine ganz spezielle Höllenqual darstellte. Außerdem erschien einem durch das aus Station A kommende Summen jede Hoffnung irrelevant, was furchtbar war. Kalisha hatte sich noch nie so einsam gefühlt, so in die Enge getrieben.
Trotzdem muss ich durchhalten, so lange es geht, dachte sie. Egal was sie uns mit diesen Lichtern und diesen verdammten Filmen antun, ich muss durchhalten. Alles tun, damit ich nicht den Verstand verliere.
Langsam gingen die drei unter den Augen des Pflegers den Flur entlang, nicht wie Kinder, sondern wie Invaliden. Oder wie alte Leute, die in einem ungemütlichen Hospiz ihre letzten Wochen hinter sich brachten.
9
Angeführt von Dr. Everett Hallas, kamen Mrs. Sigsby und Stackhouse an der geschlossenen Doppeltür mit der Aufschrift Station A vorüber. Stackhouse schob den Transportwagen. Hinter der Tür hörte man weder Rufe noch Geschrei, aber das Gefühl, sich in einem elektrischen Feld zu befinden, war noch stärker; es huschte über Mrs. Sigsbys Haut wie unsichtbare Mäusefüßchen. Offenbar spürte Stackhouse es auch. Er rieb sich mit der Hand, die nicht die provisorische Bahre von Maureen Alvorson schob, seinen glatt rasierten Schädel.
»Für mich fühlt es sich immer wie Spinnweben an«, sagte er und sah Heckle an. »Spüren Sie es nicht?«
»Ich bin daran gewöhnt«, sagte Heckle und legte den Finger an den Mundwinkel. »Das ist ein Prozess der Assimilation.« Er stutzte. »Nein, das ist nicht der richtige Ausdruck. Akklimation, glaube ich. Oder heißt es Akklimatisation? Könnte beides sein.«
Mrs. Sigsby wurde von einer Neugier ergriffen, die beinahe drollig war. »Dr. Hallas, wann ist Ihr Geburtstag? Wissen Sie das noch?«
»Am neunten September. Und ich weiß auch, was Sie denken.« Er blickte über die Schulter auf die Tür mit der roten Aufschrift Station A, dann sah er Mrs. Sigsby an. »Nichtsdestoweniger geht es mir gut.«
»Am neunten September«, sagte sie. »Dann sind Sie also… Was? Waage?«
»Wassermann«, sagte Heckle und warf ihr einen schalkhaften Blick zu, der zu sagen schien: Mich führen Sie nicht so schnell hinters Licht, gute Frau. »Wenn der Mond im siebten Hause steht und Jupiter auf Mars zugeht. Und so weiter und so fort. Kopf runter, Mr. Stackhouse. Da kommt ein niedriger Balken.«
Sie gingen durch einen kurzen, schummrigen Flur, stiegen eine Treppe hinunter, wobei Stackhouse den Wagen vorn abbremste und Mrs. Sigsby ihn von hinten lenkte, und kamen zu einer weiteren geschlossenen Tür. Nachdem Heckle sie mit seiner Karte geöffnet hatte, traten sie in einen runden Raum, in dem es unangenehm warm war. Möbel gab es keine, aber an der Wand hing ein gerahmtes Schild: BEDENKET, DASS DIES HELDEN WAREN. Die Glasplatte darüber war verschmiert und musste dringend gereinigt werden. An der anderen Seite des Raums war in der Mitte einer rohen Betonwand eine Stahlklappe wie für einen industriellen Kühlraum eingelassen. Links davon befand sich ein kleines Display, das momentan nichts anzeigte. Rechts waren zwei Knöpfe, einer rot und einer grün.
Hier drin verblassten die gebrochenen Gedanken und die Erinnerungsfragmente, die Mrs. Sigsby geplagt hatten, und die leichten Kopfschmerzen, die sich an ihren Schläfen breitgemacht hatten, ließen ein bisschen nach. Das war erfreulich, aber sie konnte es trotzdem kaum erwarten, hier rauszukommen. Sie suchte den Hinterbau nur selten auf, weil ihre Anwesenheit normalerweise unnötig war; schließlich musste auch der Befehlshaber einer Armee sich nicht an die vorderste Front begeben, solange die Schlacht gut lief. Und obwohl sie sich besser fühlte, war es schlicht schauderhaft, sich in diesem kahlen, runden Raum aufzuhalten.
Auch Hallas schien es besser zu gehen; er sah nicht mehr wie Heckle aus, sondern wie der Mann, der fünfundzwanzig Jahre als Militärarzt verbracht hatte und mit einem Bronze Star ausgezeichnet worden war. Er hatte sich aufgerichtet und damit aufgehört, den Finger an den Mundwinkel zu legen. Seine Augen waren klar, seine Fragen präzise.
»Trägt sie irgendwelchen Schmuck?«
»Nein«, sagte Mrs. Sigsby, wobei sie an Alvorsons fehlenden Ehering dachte.
»Darf ich annehmen, dass sie bekleidet ist?«
»Natürlich.« Von dieser Frage fühlte Mrs. Sigsby sich irgendwie beleidigt.
»Haben Sie ihre Taschen durchsucht?«
Sie sah Stackhouse an. Der schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie das noch tun? Es ist Ihre letzte Chance.«
Darüber dachte Mrs. Sigsby einen Moment lang nach und entschied sich dann dagegen. Schließlich hatte die Frau ihre Abschiedsbotschaft an der Badezimmerwand hinterlassen, und ihre Handtasche lag sicher in ihrem Schließfach. Die musste untersucht werden, schon aus Routine, aber sie hatte keine Lust, die Leiche der Haushälterin samt dieser unverschämt herausragenden Zunge noch einmal auszuwickeln, nur um einen Labello, eine Rolle Magenpastillen und ein paar zusammengeknüllte Kleenextücher zu finden.
»Ich nicht. Was ist mit Ihnen, Trevor?«
Stackhouse schüttelte nur wieder den Kopf. Er war das ganze Jahr über gebräunt, sah heute aber bleich aus. Der Gang durch den Hinterbau hatte auch ihn geschlaucht. Vielleicht sollten wir das öfter tun, dachte Mrs. Sigsby. Um in Kontakt mit dem gesamten Prozess zu bleiben. Dann fiel ihr ein, dass Dr. Hallas sich als Wassermann bezeichnet und Stackhouse aus heiterem Himmel etwas von Bohnen in den Ohren erzählt hatte, und sie beschloss, dass es gar keine gute Idee war, in Kontakt mit dem Prozess zu bleiben. Und ganz nebenbei – wenn Hallas am neunten September geboren war, war er dann überhaupt Waage? Das kam ihr nicht ganz richtig vor. War er da nicht eher Jungfrau?
»Auf geht’s«, sagte sie.
»Na, dann frisch ans Werk!«, sagte Dr. Hallas und zeigte ein breites Grinsen, das typisch Heckle war. Er legte den Handgriff der Edelstahltür um und zog sie auf. Dahinter gab es Schwärze, den Geruch von gebratenem Fleisch und ein rußiges Förderband, das schräg in die Tiefe führte.
Das Schild an der Wand muss abgewischt werden, dachte Mrs. Sigsby. Und das Förderband da muss abgeschrubbt werden, bevor es so schmutzig ist, dass es blockiert. Weitere Nachlässigkeit.
»Hoffentlich brauchen Sie keine Hilfe dabei, sie reinzuheben«, sagte Heckle, der immer noch wie ein Gameshow-Moderator grinste. »Heute fühle ich mich nämlich leider ziemlich schwach. Hab mein Morgenmüsli nicht gegessen.«
Stackhouse hob den eingewickelten Körper hoch und legte ihn auf das Förderband. Dabei öffnete sich der untere Teil der Plane, und ein Schuh kam zum Vorschein. Mrs. Sigsby spürte den Drang, den Blick von der abgewetzten Sohle abzuwenden, unterdrückte ihn jedoch.
»Irgendwelche letzten Worte?«, sagte Dr. Hallas. »Adieu und Lebewohl? In unseren Herzen lebst du weiter?«
»Lassen Sie den Blödsinn«, sagte Mrs. Sigsby.
Dr. Hallas schloss die Klappe und drückte den grünen Knopf. Mrs. Sigsby vernahm das Rumpeln und Quietschen, mit dem das verdreckte Förderband sich in Bewegung setzte. Dann hörten die Geräusche auf, und Hallas drückte den roten Knopf. Die Anzeige auf dem Display leuchtete auf und sprang rasch von 100 auf 200 auf 400 auf 800 und schließlich auf 1800 Grad Celsius.
»Wesentlich heißer als ein herkömmliches Krematorium«, sagte Hallas. »Außerdem wesentlich schneller, aber es dauert trotzdem ein Weilchen. Sie können gerne dableiben, dann kann ich später einen ausführlichen Rundgang mit Ihnen machen.« Er grinste immer noch über beide Ohren.