»Heute nicht«, sagte Mrs. Sigsby. »Zu viel zu tun.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Na, vielleicht ein andermal. Wir bekommen Sie so selten zu Gesicht, und wir haben immer geöffnet.«
10
Während Maureen Alvorson ihre letzte Rutschpartie antrat, verzehrte Stevie Whipple an einem Esstisch im Vorderbau eine Portion Käse-Makkaroni. Avery Dixon packte ihn an seinem fleischigen, mit Sommersprossen überzogenen Arm. »Komm mal mit mir auf den Spielplatz raus.«
»Bin aber noch nich mit Essen fertig, Avery.«
»Ist mir egal.« Avery senkte die Stimme. »Es ist wichtig.«
Stevie schaufelte sich eine letzte gewaltige Portion in den Mund, wischte ihn sich mit dem Handrücken ab und folgte Avery. Auf dem Spielplatz hielt sich nur Frieda Brown auf, die auf dem Asphalt unter dem Basketballkorb hockte und mit Kreide Comicfiguren zeichnete. Ziemlich gute, und alle grinsten sie. Als die zwei Jungen an ihr vorübergingen, blickte sie nicht auf.
Am Maschendrahtzaun angekommen, deutete Avery auf eine Kuhle im Kies. Stevie starrte sie mit großen Augen an. »Wer hat denn das gemacht? Ein Murmeltier oder so was?« Er sah sich um, als würde er erwarten, dass sich ein Waldmurmeltier – möglicherweise tollwütig – unter dem Trampolin oder dem Picknicktisch versteckt hatte.
»Nein, kein Murmeltier«, sagte Avery.
»Da könntest du dich bestimmt leicht durchschlängeln, Avester. Um zu dessertieren.«
Denk bloß nicht, dass ich auf die Idee nicht schon selbst gekommen bin, dachte Avery, aber ich würde mich im Wald verirren. Und selbst wenn nicht, ist das Boot nicht mehr da. »Vergiss es. Du musst mir helfen, das Loch da aufzufüllen.«
»Warum?«
»Einfach so. Und es heißt nicht dessertieren, das hört sich dämlich an. Nur ein s, Stevie. Desertieren.« Was sein Freund Luke getan hatte, Gott schütze ihn. Wo der jetzt wohl gerade war? Avery hatte keine Ahnung. Er hatte den Kontakt zu ihm verloren.
»Desertieren«, wiederholte Stevie. »Hab’s kapiert.«
»Super. Hilf mir jetzt.«
Die Jungen knieten sich hin und fingen an, die Kuhle unter dem Zaun aufzufüllen. Während sie mit den Händen Kies schaufelten, stieg eine Staubwolke in die Luft. Es war anstrengend, und bald schwitzten beide. Stevies Gesicht war puterrot.
»Sagt mal, was macht ihr da eigentlich?«
Sie blickten sich um. Es war Gladys, deren strahlendes Lächeln momentan nirgendwo in Sicht war.
»Nichts Besonderes«, sagte Avery.
»Ja, nichts Besonderes«, stimmte Stevie zu. »Wir spielen bloß im Dreck. Im dreckigen Dreck, wissen Sie?«
»Lasst mich mal sehen. Zur Seite!« Weil keiner der beiden sich rührte, trat sie Avery in die Rippen.
»Au!«, schrie er und krümmte sich. »Au, das hat wehgetan!«
»Was ist denn los mit Ihnen?«, sagte Stevie. »Haben Sie etwa Ihre Tage?« Womit er sich ebenfalls einen Fußtritt einfing, oben an der Schulter.
Gladys betrachtete die erst teilweise aufgefüllte Kuhle, dann sah sie Frieda an, die immer noch in ihre künstlerischen Bemühungen versunken war. »Hast du das da gemacht?«
Ohne aufzublicken, schüttelte Frieda den Kopf.
Gladys zog ihr Funkgerät aus der Hosentasche und drückte auf eine Taste. »Mr. Stackhouse? Hier spricht Gladys. Mr. Stackhouse, bitte melden.«
Es gab eine Pause, dann: »Hier spricht Stackhouse, was gibt’s?«
»Ich glaube, Sie sollten so bald wie möglich auf den Spielplatz rauskommen. Da ist was, was Sie sich ansehen müssen. Vielleicht hat es nichts zu bedeuten, aber es gefällt mir nicht.«
11
Nachdem Gladys den Sicherheitschef informiert hatte, rief sie Winona herbei, damit sie die beiden Jungen auf ihre Zimmer brachte. Dort sollten sie sich bis auf Weiteres aufhalten.
»Ich hab keine Ahnung, was das für ein Loch ist«, sagte Stevie knatschig. »Hab gedacht, das hat bestimmt ein Murmeltier gegraben.«
Winona befahl ihm, die Klappe zu halten, und scheuchte die Jungen hinein.
Stackhouse brachte Mrs. Sigsby mit. Sie bückte sich, während er in die Hocke ging, um zuerst die Kuhle unter dem Zaun und dann den Zaun zu inspizieren.
»Da könnte bestimmt niemand drunter durchkriechen«, sagte Mrs. Sigsby. »Na gut, vielleicht Dixon, der ist nicht viel größer, als es die Wilcox-Zwillinge waren, aber sonst niemand.«
Stackhouse schaufelte die lose Mischung aus Kies und Erde weg, die von den beiden Jungen wieder aufgefüllt worden war. Die Kuhle wurde dadurch deutlich tiefer. »Sind Sie sich da sicher?«
Mrs. Sigsby merkte, dass sie sich auf die Unterlippe biss, und ließ es bleiben. Schon die Vorstellung ist lächerlich, dachte sie. Wir haben Kameras, wir haben Mikrofone, wir haben die Pfleger, die Hausmeister und die Haushälterinnen, wir haben Sicherheitsleute. Und das alles, obwohl wir es nur mit einem Haufen Kinder zu tun haben, die so verängstigt sind, dass sie sich kaum trauen, den Mund aufzumachen.
Freilich war da Wilholm, der sich durchaus getraut hatte, den Mund aufzumachen, und im Lauf der Jahre hatte es noch einige andere wie ihn gegeben. Trotzdem…
»Julia.« Sehr leise.
»Was denn?«
»Knien Sie sich mal neben mich.«
Das wollte sie gerade tun, als sie sah, dass die kleine Brown herüberstarrte. »Rein mit dir!«, blaffte sie. »Und zwar sofort!«
Frieda stand hastig auf, klopfte sich die mit Kreide beschmierten Hände ab und ließ ihre grinsenden Comicfiguren im Stich. Während sie im Aufenthaltsraum verschwand, sah Mrs. Sigsby eine kleine Schar Kinder herausgaffen. Wo waren eigentlich die Pfleger, wenn man sie brauchte? Etwa im Pausenraum, um mit einem von den Extraktionsteams Geschichten auszutauschen? Oder um versaute Witze zu…
»Julia!«
Sie ließ sich auf ein Knie nieder und zog dabei eine Grimasse, weil sich ein scharfkantiges Kiesbröckchen in ihre Haut bohrte.
»Da ist Blut am Zaun. Sehen Sie das?«
Sie wollte es nicht sehen, aber sie sah es. Ja, da war Blut. Zu einer rostbraunen Schicht getrocknet, aber eindeutig Blut.
»Und jetzt schauen Sie mal da drüben hin.«
Er steckte den Finger durch eine Raute des Zauns und deutete auf einen halb entwurzelten Strauch. Auf dem war ebenfalls Blut. Als Mrs. Sigsby die Flecke dort betrachtete, Flecke, die sich da draußen befanden, wurde ihr flau im Magen, und einen erschreckenden Moment lang dachte sie, sie würde sich in die Hose pinkeln wie damals vor langer Zeit auf ihrem Dreirad. Sie dachte an das Nullfon und sah ihr Leben als Chefin des Instituts – denn darum handelte es sich, nicht um einen Job, sondern um ihr Leben – darin verschwinden. Was würde der lispelnde Mann am anderen Ende der Leitung wohl sagen, wenn sie ihn anrufen und ihm gestehen musste, dass aus der vermeintlich geheimsten und sichersten Einrichtung im ganzen Land – die außerdem die wichtigste Einrichtung im Land war – ein Kind entkommen war – einfach unter dem Zaun durchgeschlüpft?
Er würde natürlich sagen, dass sie erledigt war. Ein für alle Mal.
»Die Insassen sind doch alle da«, flüsterte sie heiser. Sie packte Stackhouse so fest am Handgelenk, dass ihre Fingernägel sich in seine Haut bohrten. Das schien ihm gar nicht aufzufallen, denn er starrte immer noch wie hypnotisiert auf den halb entwurzelten Strauch. Für ihn war es genauso schlimm wie für sie. Nicht schlimmer, es konnte gar nicht schlimmer sein, aber genauso schlimm. »Trevor, die sind alle da. Das habe ich nachprüfen lassen.«