»Ich glaube, das sollten Sie noch mal tun. Meinen Sie nicht?«
Diesmal hatte sie ihr Funkgerät dabei (wie war das mit dem Deckel auf dem Brunnen, nachdem das Kind hineingefallen war?) und drückte auf eine Taste. »Zeke, hier spricht Mrs. Sigsby. Zeke, bitte kommen.« Wehe, du bist nicht auf deinem Posten, Ionidis. Wehe dir.
Er war auf seinem Posten. »Hier spricht Zeke, Mrs. Sigsby. Ich hab Recherchen über Alvorson angestellt. Mr. Stackhouse hat mich damit beauftragt, weil Jerry Urlaub hat und Andy gerade nicht hier ist. Ich hab Alvorsons Nachbarin in Vermont er…«
»Ist jetzt nicht so wichtig. Schauen Sie sich noch mal die Position der Ortungschips an.«
»Okay.« Mit einem Mal hörte er sich beklommen an. Bestimmt hat er die Anspannung in meiner Stimme gehört, dachte sie. »Einen Augenblick, heute Morgen läuft das Zeug hier ziemlich langsam… nur noch ein paar Sekunden…«
Sie hätte am liebsten losgeschrien. Stackhouse spähte immer noch durch den Zaun, als würde er erwarten, dass dort wie durch Zauberhand ein Hobbit auftauchte und alles erklärte.
»Alles in Ordnung«, sagte Zeke. »Einundvierzig Insassen, weiterhin vollständig anwesend.«
Erleichterung kühlte ihr Gesicht wie eine Brise. »In Ordnung, das ist gut. Das ist sehr…«
Stackhouse nahm ihr das Funkgerät aus der Hand. »Wo halten die sich momentan auf?«
»Äh… immer noch achtundzwanzig im Hinterbau, jetzt sind es vier im Aufenthaltsraum vom Ostflügel… drei in der Cafeteria… zwei in ihrem Zimmer… drei im Flur…«
Das müssen Dixon, Whipple und die verhinderte Comiczeichnerin sein, dachte Mrs. Sigsby.
»Plus einer auf dem Spielplatz«, endete Zeke. »Einundvierzig. Wie ich gesagt habe.«
»Moment mal, Zeke.« Stackhouse wandte sich an Mrs. Sigsby. »Sehen Sie hier auf dem Spielplatz etwa ein Kind?«
Sie gab ihm keine Antwort. Das war nicht nötig.
Stackhouse hob wieder das Funkgerät. »Zeke?«
»Nur zu, Mr. Stackhouse. Ich höre.«
»Können Sie den exakten Standort des Kindes auf dem Spielplatz feststellen?«
»Äh… muss erst zoomen… dafür gibt’s irgendwo eine Taste…«
»Machen Sie sich keine Mühe«, sagte Mrs. Sigsby. Sie hatte etwas in der frühen Nachmittagssonne glitzern sehen. Sie ging zum Basketballplatz, blieb an der Linie stehen und hob den Gegenstand auf. Dann kehrte sie zu ihrem Sicherheitschef zurück und streckte ihm die offene Hand hin. Darin lag der größere Teil eines Ohrläppchens, in dem der Ortungschip noch eingebettet war.
12
Die Insassen des Vorderbaus wurden angewiesen, sich auf ihre Zimmer zu begeben und dort zu bleiben. Sollte jemand auf dem Flur erwischt werden, werde er streng bestraft. Die Security-Mannschaft des Instituts bestand aus gerade mal vier Personen, Stackhouse eingerechnet. Zwei davon waren im Dorf und kamen schleunigst angegondelt – auf dem für Golfmobile angelegten Weg, zu dem Maureen Luke hatte dirigieren wollen und den er um weniger als dreißig Meter verfehlt hatte. Das dritte Mitglied des Teams weilte in Dennison River Bend, und Stackhouse hatte nicht die Absicht, auf dessen Ankunft zu warten. Schließlich waren Denny Williams und Robin Lecks von Team Ruby Red vor Ort, weil sie auf ihren nächsten Auftrag warteten, und die waren gern bereit, sich rekrutieren zu lassen. Ihnen schlossen sich zwei Pfleger an, Joe Brinks und Chad Greenlee.
»Es geht um den Jungen aus Minnesota, ja?«, sagte Denny, sobald die provisorische Suchmannschaft zusammengestellt und informiert worden war. »Den wir letzten Monat hergebracht haben.«
»Stimmt«, sagte Stackhouse. »Es ist der Junge aus Minnesota.«
»Und Sie sagen, er hat sich das Ohrläppchen mit dem Chip drin einfach abgerissen?«, fragte Robin.
»Dafür ist der Rand zu glatt. Ich glaube, er hat ein Messer zu Hilfe genommen.«
»Muss man Eier für haben, so oder so«, sagte Denny.
»Also, ich reiß dem die Eier ab, sobald wir ihn geschnappt haben«, sagte Joe. »Er schlägt zwar nicht um sich, wie Wilholm es getan hat, aber er hat so einen Leck-mich-Ausdruck in den Augen.«
»Bestimmt hat er sich im Wald verirrt und ist so verzweifelt, dass er uns um den Hals fällt, wenn wir ihn finden«, sagte Chad. Er machte eine Pause. »Falls wir ihn finden. Da draußen stehen massenhaft Bäume.«
»Er hat am Ohr geblutet und wahrscheinlich auch aus Kratzwunden am Rücken«, sagte Stackhouse. »An die Hände muss das Blut auch gekommen sein. Wir folgen der Spur so weit, wie es geht.«
»Wäre gut, wenn wir einen Hund hätten«, sagte Denny Williams. »Einen Bluthund oder einen guten alten Bluetick.«
»Wäre gut, wenn er erst gar nicht rausgekommen wäre«, sagte Robin. »Unter dem Zaun ist er durch, hm?« Beinahe hätte sie gelacht, sah dann jedoch die angespannte Miene und den wütenden Blick von Stackhouse und überlegte es sich anders.
In diesem Augenblick trafen Rafe Pullman und John Walsh ein, die beiden Sicherheitsleute, die sich im Dorf aufgehalten hatten.
»Damit das klar ist: Töten werden wir ihn nicht«, sagte Stackhouse. »Aber wir werden dem kleinen Scheißkerl ein paar anständige Elektroschocks verpassen, wenn wir ihn finden.«
»Falls wir ihn finden«, wiederholte Chad der Pfleger.
»Wir finden ihn schon«, sagte Stackhouse. Denn wenn nicht, dachte er, bin ich geliefert. Womöglich samt dem ganzen Laden hier.
»Ich gehe wieder in mein Büro«, sagte Mrs. Sigsby.
Stackhouse fasste sie am Ellbogen. »Um was zu tun?«
»Um nachzudenken.«
»Das ist gut. Denken Sie nach, so viel Sie wollen, aber keine Anrufe. Sind wir uns da einig?«
Mrs. Sigsby sah ihn voller Verachtung an, aber die Art und Weise, wie sie sich auf die Lippen biss, wies darauf hin, dass sie wahrscheinlich Angst hatte. Falls er damit richtig lag, waren sie in der Hinsicht zu zweit. »Selbstverständlich«, sagte sie.
Aber als sie in ihr Büro kam – in dessen herrliche, klimatisierte Stille–, stellte sie fest, dass es ihr schwerfiel nachzudenken. Ihr Blick wanderte ständig zu der verschlossenen Schublade in ihrem Schreibtisch. Als ob da kein Telefon drin gewesen wäre, sondern eine Handgranate.
13
Drei Uhr nachmittags.
Keine Neuigkeiten von den Leuten, die im Wald nach Luke Ellis suchten. Massenhaft Mitteilungen, das ja, aber keine Neuigkeiten. Das gesamte Institutspersonal war über die Flucht informiert worden, alle waren im Einsatz. Einige hatten sich dem Suchtrupp angeschlossen, andere durchkämmten das »Dorf«. Sie suchten in allen leeren Häusern nach dem Jungen oder wenigstens nach Anzeichen dafür, dass er sich dort aufgehalten hatte. Kein einziges Privatfahrzeug fehlte. Die Golfmobile, mit denen das Personal kurze Distanzen überwand, standen alle da, wo sie hingehörten. Die Zuträger in Dennison River Bend, darunter zwei Beamte der kleinen städtischen Polizeitruppe, waren alarmiert worden und hatten die Personenbeschreibung von Ellis erhalten, aber den hatte niemand gesehen.
Was Alvorson anging, gab es hingegen Neuigkeiten.
Ionidis hatte die Initiative ergriffen und zwar mit einem listigen Geschick, zu dem Jerry Symonds und Andy Fellowes, die beiden IT-Spezialisten, nie fähig gewesen wären. Mithilfe von Google Earth und einem Telefonnummernsuchprogramm hatte er die Nummer von Alvorsons Nachbarin in dem kleinen Ort in Vermont herausgefunden, wo die verstorbene Haushälterin ein Haus besaß. Gegenüber dieser Nachbarin hatte er sich als Beamter des Finanzamts ausgegeben, was sie ihm ohne jede Nachfrage abgekauft hatte. Ganz ohne jene Zurückhaltung, für die die Bewohner von Neuengland angeblich bekannt waren, hatte sie ihm erzählt, Maureen habe sie bei ihrem letzten Aufenthalt gebeten, als Zeugin bei der Unterzeichnung mehrerer Schriftstücke mitzuwirken. Zugegen gewesen sei ferner eine Rechtsanwältin. Die Empfänger dieser Schriftstücke waren nach Angaben der Nachbarin verschiedene Inkassobüros. Die Anwältin habe von Abmahnungen gesprochen, außerdem von einer geforderten Unterlassungserklärung.