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»Bei den Briefen ging es um die Kreditkarten von Maureens Mann«, hatte die Nachbarin zu Ionidis gesagt. »Mo hat mir zwar nichts weiter erklärt, aber das war gar nicht nötig, schließlich bin ich nicht von gestern. Sie hat nämlich die ganzen Schulden von dem Penner abgezahlt. Wenn das Finanzamt deshalb was gegen sie unternehmen will, sollte es sich beeilen. Sie sah nämlich todkrank aus.«

Alles in allem hatte die Nachbarin wohl alles wahrheitsgemäß dargestellt. Die Frage war, weshalb Alvorson das alles getan hatte, denn es wäre absolut unnötig gewesen. Alle Mitarbeiter des Instituts wussten, dass sie bei irgendwelchen finanziellen Schwierigkeiten (meistens handelte es sich um Spielschulden) Darlehen erhalten konnten, die praktisch zinslos waren. Dieser Teil der Lohnzusatzleistungen wurde allen neuen Mitarbeitern gleich bei der Einweisung erläutert. Er war weniger ein Bonus für die Arbeitnehmer als ein Schutz für das Institut, denn wenn jemand Schulden hatte, war er unter Umständen versucht, Geheimnisse zu verkaufen.

Die naheliegende Erklärung für Alvorsons Verhalten war Stolz, eventuell verbunden mit Scham darüber, von ihrem verschwundenen Ehemann ausgenutzt worden zu sein. Trotzdem war Mrs. Sigsby unwohl bei der Sache, schließlich hatte die Frau sich dem Ende ihres Lebens genähert und das bestimmt schon eine ganze Weile gewusst. Deshalb hatte sie wohl beschlossen, reinen Tisch zu machen, und Geld von der Organisation anzunehmen, mit der sie sich die Hände schmutzig gemacht hatte, wäre ein Widerspruch gewesen. Das kam Mrs. Sigsby plausibel vor, jedenfalls mehr oder weniger. Es passte dazu, dass Alvorson auf die Hölle verwiesen hatte.

Dieses Miststück hat ihm bei der Flucht geholfen, dachte Mrs. Sigsby. Natürlich hat sie das getan, es war ihre Vorstellung von Sühne. Außerdem hat sie dafür gesorgt, dass ich sie deshalb nicht mehr in die Zange nehmen kann. Kein Wunder, sie kannte unsere Methoden. Aber was mache ich jetzt? Was soll ich tun, wenn dieser neunmalkluge Bengel nicht wieder da ist, bevor es dunkel wird?

Sie kannte die Antwort, und das galt garantiert auch für Trevor. Sie würde das Nullfon aus seiner verschlossenen Schublade nehmen und gleichzeitig die drei weißen Tasten drücken müssen. Daraufhin würde der Mann mit dem Lispeln sich melden. Was würde er wohl sagen, wenn sie ihm meldete, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Instituts ein Insasse entkommen war, und das, indem er sich mitten in der Nacht unter dem Zaun durchgewühlt hatte? Ach, dath tut mir aber leid? Tho ein Pech! Machen Thie thich deshalb keine Thorgen?

Von wegen!

Denk nach, befahl sie sich. Denk nach, denk nach, denk nach! Wem hat diese verdammte Haushälterin sich womöglich anvertraut? Beziehungsweise – wem hat Ellis sich…

»Scheiße. Scheiße!«

Es war sonnenklar, und zwar schon seit sie das Loch unter dem Zaun gesehen hatte. Mit weit aufgerissenen Augen saß sie kerzengerade auf ihrem Sessel. Zum ersten Mal, seit Stackhouse gemeldet hatte, dass die Blutspur nur etwa fünfzig Meter weit in den Wald hineinreichte, dachte sie nicht an das Nullfon.

Sie fuhr ihren Computer hoch und fand die Datei, die sie haben wollte. Ein Klick, und das Video lief ab. Das, auf dem Alvorson sich mit Ellis und Dixon unterhielt.

Hier können wir miteinander sprechen. Da oben ist zwar ein Mikrofon, aber das funktioniert schon jahrelang nicht mehr.

Hauptsächlich sprach Luke Ellis. Er äußerte Sorgen um die Zwillinge und um Harry Cross. Alvorson beruhigte ihn. Dixon stand dabei und sagte kaum etwas, er kratzte sich nur an den Armen und zog an seiner Nase.

Du lieber Himmel, Kleiner, hatte Stackhouse kommentiert, wenn du dir in der Nase bohren willst, dann tu es endlich! Aber jetzt, wo Mrs. Sigsby das Video mit neuen Augen sah, wurde ihr klar, was da wirklich gelaufen war.

Sie klappte ihren Laptop zu und drückte auf die Sprechanlage. »Rosalind, ich will mit dem kleinen Dixon sprechen. Sagen Sie Tony und Winona, sie sollen ihn herschaffen. Und zwar sofort.«

14

Gekleidet in ein Batman-T-Shirt und schmutzige Shorts, die seine verschorften Knie noch besser zur Geltung brachten, stand Avery Dixon vor dem Schreibtisch von Mrs. Sigsby und sah sie mit ängstlichem Blick an. Ohnehin schon klein, wirkte er zwischen Winona und Tony nicht wie ein Zehnjähriger, sondern kaum wie ein Erstklässler.

Mrs. Sigsby bedachte ihn mit einem schmallippigen Lächeln. »Ich hätte viel früher auf dich kommen sollen, Mr. Dixon. Offenbar werde ich allmählich nachlässig.«

»Ja, Ma’am«, flüsterte Avery.

»Du stimmst mir also zu? Du meinst, dass ich nachlässig werde?«

»Nein, Ma’am!« Averys Zunge zuckte aus dem Mund und befeuchtete seine Lippen. An der Nase zog er sich heute jedoch nicht.

Mrs. Sigsby verschränkte die Hände und beugte sich vor. »Falls doch, ist es damit jetzt vorbei. Es wird Veränderungen geben. Aber zuerst ist es wichtig… genauer gesagt unerlässlich… dass wir Luke wieder nach Hause holen.«

»Ja, Ma’am.«

Sie nickte. »Wir sind derselben Meinung, das ist erfreulich. Ein guter Anfang. Also, wo ist er hin?«

»Das weiß ich nicht, Ma’am.«

»Ich glaube aber doch. Schließlich hast du zusammen mit Steven Whipple das Loch zugescharrt, durch das er geflohen ist. Was ziemlich dumm war. Du hättest es lieber so lassen sollen, wie es war.«

»Wir dachten, das hat ein Murmeltier gebuddelt, Ma’am.«

»Unsinn. Du weißt genau, wer es gebuddelt hat. Dein Freund Luke. Also.« Sie legte die gespreizten Hände auf den Tisch und lächelte ihn wieder an. »Er ist ein kluger Junge, und kluge Jungen verschwinden nicht einfach so im Wald. Sich unter dem Zaun durchzuwühlen war eventuell seine eigene Idee, aber ohne Alvorson hätte er nicht gewusst, wie er dahinter weitergehen sollte. Sie hat dir die Anweisungen Stück für Stück übermittelt, und zwar jedes Mal wenn du dir an der Nase gezogen hast. Das hat sie dir alles direkt in dein talentiertes Köpfchen gebeamt, nicht wahr? Später hast du es dann an Ellis weitergegeben. Leugnen ist zwecklos, Mr. Dixon, ich habe die Videoaufnahmen des Gesprächs gesehen. In dieser Beziehung muss ich mir – wenn du einer albernen alten Dame einen kleinen Scherz erlaubst – selbst an die Nase fassen. Ich hätte es nämlich schon früher merken sollen.«

Das gilt auch für Trevor, dachte sie. Er hat sich das Video ja auch angesehen und hätte merken sollen, was da läuft. Falls wir ausführlich Bericht erstatten müssen, wenn die Sache erledigt ist, werden wir ziemlich dumm ausschauen.

»Sag mir jetzt, wo er hin ist.«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Du verdrehst die Augen, Mr. Dixon. Nur Lügner tun so etwas. Schau mir mal direkt ins Gesicht. Sonst verdreht Tony dir den Arm hinter dem Rücken, und das wird wehtun.«

Sie nickte Tony zu, der Avery an einem von seinen dünnen Handgelenken packte.

Avery sah sie an. Das war schwer für ihn, weil ihr hageres Gesicht ihm Angst einjagte – es war das Gesicht einer fiesen Lehrerin mit kompromisslosen Verhörmethoden–, aber er schaffte es. In seine Augen traten Tränen und kullerten an den Wangen herab. Er war eben nah am Wasser gebaut, seine zwei älteren Schwestern hatten ihn immer als kleine Heulsuse bezeichnet, und auf dem Schulhof war er in der Pause für alle der Prügelknabe gewesen. Hier auf dem Spielplatz war es besser. Er vermisste seine Mutter und seinen Vater, er vermisste die beiden sehr, aber wenigstens hatte er hier Freunde. Selbst Harry hatte ihn zwar erst zu Boden gestoßen, war dann jedoch sein Freund geworden. Zumindest bis er gestorben war. Bis sie ihn mit einem von ihren bescheuerten Tests umgebracht hatten. Sha und Helen waren fort, aber das neue Mädchen – Frieda – war nett zu ihm und hatte ihn sogar beim Basketball gewinnen lassen. Bloß einmal, aber immerhin. Ganz zu schweigen von Luke. Der war der Beste von allen. Der beste Freund, den Avery je gehabt hatte.