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»Wo sollte er hin? Was für einen Plan hat Alvorson für ihn ausgeheckt?«

»Das weiß ich nicht!«

Mrs. Sigsby nickte Tony zu, der Avery den Arm hinter dem Rücken verdrehte und das Handgelenk dabei fast bis zum Schulterblatt hochzog. Das tat unglaublich weh. Avery schrie auf.

»Wo ist er hin? Was war der Plan?«

»Das weiß ich nicht!«

»Lassen Sie ihn los, Tony.«

Tony gehorchte, worauf Avery schluchzend auf die Knie sank. »Das hat echt wehgetan, bitte tun Sie mir nicht mehr weh, bitte!« Eigentlich hätte er noch das ist nicht fair hinzufügen wollen, aber was scherte es diese Leute schon, was fair war. Einen Dreck scherte sie das.

»Das will ich auch nicht«, sagte Mrs. Sigsby, was die halbe Wahrheit war. Die ganze lief darauf hinaus, dass all die Jahre, die sie inzwischen in diesem Büro verbracht hatte, sie gegen die Schmerzen von Kindern unempfindlich gemacht hatten. Das Schild im Krematorium stimmte zwar – die Kinder waren Helden, egal wie viel Widerwillen sie zuvor gegen ihr Heldentum an den Tag gelegt hatten–, aber manche stellten die Geduld auf eine besonders harte Probe. Manchmal, bis einem der Geduldsfaden riss.

»Ich weiß nicht, wo er hin ist. Ehrlich!«

»Wenn jemand extra sagen muss, er ist ehrlich, bedeutet es stets, dass er es eben nicht ist. Ich hab schon allerhand erlebt, und daher weiß ich Bescheid. Also sag’s mir endlich: Wo ist er hin, und was war der Plan?«

»Das weiß ich nicht!«

»Tony, heben Sie sein T-Shirt an. Winona, Ihren Taser. Mittlere Stärke.«

»Nein!«, schrie Avery und versuchte, sich aus Tonys Griff zu winden. »Nicht der Schockstock! Bitte nicht der Schockstock!«

Tony packte ihn an beiden Armen und hob sein T-Shirt an. Winona richtete ihren Schockstock direkt auf Averys Bauchnabel und löste aus. Avery kreischte auf. Seine Beine zuckten, und auf dem Teppichboden erblühte ein Pissefleck.

»Wo ist er hin, Mr. Dixon?« Das Gesicht des Jungen war fleckig und mit Rotz verschmiert, unter seinen Augen prangten dunkle Ringe, und er hatte sich in die Hose gemacht – trotzdem hielt dieser Wicht weiterhin stand. Mrs. Sigsby konnte es kaum glauben. »Wo ist er hin, und was war der Plan!«

»Das weiß ich nicht!«

»Winona? Noch einmal mittlere Stärke.«

»Ma’am, sind Sie sicher, dass…«

»Diesmal ein bisschen höher, bitte. Direkt unterhalb vom Solarplexus.«

Averys Arme waren schlüpfrig vor Schweiß, weshalb es ihm gelang, sich aus Tonys Griff zu winden. Das machte die beschissene Situation fast noch schlimmer – womöglich wäre er wie ein in einer Garage gefangener Vogel im Büro umhergeflattert und von den Wänden abgeprallt–, aber Winona stellte ihm ein Bein und zerrte ihn an den Armen wieder hoch. Deshalb war es Tony, der den Taser ansetzte. Avery schrie auf und erschlaffte.

»Ist er bewusstlos?«, fragte Mrs. Sigsby. »Falls ja, holen Sie Dr. Evans, damit er ihm eine Spritze gibt. Wir brauchen schnell Antworten.«

Tony zwickte Avery in die Wange (bei seiner Anlieferung war es eine ziemlich mollige Wange gewesen, wovon jetzt nicht mehr die Rede sein konnte) und verdrehte sie. Averys Augen klappten auf. »Nee, bewusstlos ist der nicht.«

»Mr. Dixon, diese Schmerzen sind völlig unnötig«, sagte Mrs. Sigsby. »Sag mir, was ich wissen will, dann ist Schluss damit. Wo ist er hin? Was war der Plan?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Avery. »Ich weiß es wirklich wirklich wirklich…«

»Winona? Bitte ziehen Sie Mr. Dixon die Hosen aus, und richten Sie Ihren Taser auf seine Hoden. Volle Stärke.«

Obwohl Winona jederzeit bereit war, Ohrfeigen zu verteilen, wenn jemand frech wurde, war sie eindeutig unglücklich über die Anordnung. Dennoch griff sie nach seinem Hosenbund. Da knickte Avery ein.

»Okay! Okay! Ich sag’s! Hauptsache, Sie tun mir nicht mehr weh!«

»Das ist für uns beide eine Erleichterung.«

»Maureen hat ihm gesagt, er soll durch den Wald gehen. Er würde vielleicht einen Weg für Golfmobile finden, aber auf jeden Fall sollte er geradeaus gehen. Irgendwann würde er Lichter sehen, vor allem eins, das hell und gelb ist. Bei den Häusern sollte er am Zaun lang, bis er ein Halstuch findet, das an einen Strauch oder einen Baum gebunden ist, das weiß ich nicht mehr genau. Sie hat gesagt, dahinter wär ein Weg… oder eine Straße… das weiß ich auch nicht mehr. Jedenfalls würde er da zum Fluss kommen, und da wär dann ein Boot.«

Er hielt inne. Mrs. Sigsby nickte ihm zu und schenkte ihm ein gütiges Lächeln, aber in ihrer Brust schlug ihr Herz wie wild. Das war zugleich eine gute und eine schlechte Nachricht. Der von Stackhouse angeführte Suchtrupp konnte damit aufhören, durch den Wald zu stapfen, aber was war das mit diesem Boot? Ellis war bis zum Fluss gelangt? Und er hatte mehrere Stunden Vorsprung!

»Und was dann, Mr. Dixon? Wo sollte er an Land gehen? In der nächsten Stadt, stimmt’s? In Dennison River Bend?«

Avery schüttelte den Kopf und zwang sich, ihr ins Gesicht zu blicken, mit erschrockenen, weit aufgerissenen Augen und voller Aufrichtigkeit. »Nein, sie hat gesagt, das wär nicht weit genug, er soll bis Presque Isle auf dem Fluss bleiben.«

»Sehr gut, Mr. Dixon, du kannst jetzt wieder in dein Zimmer gehen. Aber wenn ich herausbekommen sollte, dass du gelogen hast…«

»Dann kriege ich Probleme«, sagte Avery, während er sich mit zitternden Händen die Tränen von den Wangen wischte.

Als sie das hörte, lachte Mrs. Sigsby doch tatsächlich. »Da hast du wohl meine Gedanken gelesen«, sagte sie.

15

Fünf Uhr abends.

Ellis war jetzt mindestens achtzehn Stunden über alle Berge, vielleicht sogar länger. Die Kameras auf dem Spielplatz zeichneten nichts auf, weshalb es unmöglich war, Genaueres zu wissen. Mrs. Sigsby saß mit Stackhouse in ihrem Büro, um die Entwicklung zu verfolgen und auf Berichte von irgendwelchen Zuträgern zu warten. Solche gab es im ganzen Land. Hauptsächlich leisteten die Zuträger des Instituts nur die Vorarbeit, indem sie Kinder mit hohem BDNF-Spiegel im Blick behielten und Informationen über deren Freunde, Familie, Wohnviertel und Schule zusammentrugen. Und natürlich über ihre Wohnsituation. Alles darüber, vor allem über die Alarmanlage. Wenn es so weit war, waren solche Hintergrundinformationen von großem Nutzen für die Extraktionsteams. Außerdem hielten die Zuträger auch Ausschau nach speziellen Kindern, die das Institut noch nicht auf dem Radar hatte. So etwas gab es von Zeit zu Zeit. Bei allen in einem amerikanischen Krankenhaus geborenen Kindern wurde – neben dem Apgar-Score und dem Screening auf PKU – auch der BDNF-Spiegel bestimmt, aber natürlich wurden nicht alle Babys im Krankenhaus geboren, und viele Eltern, vor allem die immer renitenter werdenden Impfgegner, verweigerten solche Tests.

Die Zuträger hatten keine Ahnung, für wen und für welchen Zweck sie arbeiteten; viele nahmen (fälschlicherweise) an, es handle sich um eine geheime Behörde der US-Regierung. Die meisten steckten einfach die zusätzlichen fünfhundert Dollar pro Monat ein, verfassten ihre Berichte, wenn sie dazu aufgefordert wurden, und stellten keine Fragen. Freilich stellte ab und zu doch jemand Fragen, aber dieser Jemand stellte bald fest, dass Neugier nicht nur der Katze Tod war, sondern auch der seines monatlichen Zusatzeinkommens.

Am stärksten konzentriert waren die Zuträger in dem Gebiet rund um das Institut. Hier gab es knapp fünfzig, die nicht in erster Linie damit befasst waren, talentierte Kinder zu beobachten. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, auf Leute zu achten, die die falschen Fragen stellten. Sie fungierten gewissermaßen als Stolperdrähte, als eine Art Frühwarnsystem.