Zur Sicherheit alarmierte Stackhouse ein halbes Dutzend dieser Leute in Dennison River Bend, falls der kleine Dixon sich geirrt oder gelogen hatte (»Der hat nicht gelogen, das hätte ich gemerkt«, behauptete Mrs. Sigsby steif und fest), aber die meisten schickte er nach Presque Isle. Einer erhielt den Auftrag, Kontakt mit der dortigen Polizei aufzunehmen und zu erzählen, er sei sich ziemlich sicher, einem Jungen begegnet zu sein, über den CNN groß berichtet habe. Laut der Reportage solle der Junge zum Mord an seinen Eltern vernommen werden. Sein Name sei Luke Ellis. Ganz sicher sei er sich nicht, ob es wirklich der Junge aus der Reportage gewesen sei, aber der habe genauso ausgesehen und auf bedrohliche, wirre Weise Geld gefordert. Sowohl Mrs. Sigsby als auch Stackhouse wussten, dass es nicht die ideale Lösung war, den entlaufenen Jungen von der Polizei aufgreifen zu lassen, aber mit der Polizei konnte man umgehen. Außerdem würde alles, was Ellis erzählte, als wirres Gerede eines verstörten Kindes abgetan werden.
Im Institut und in der dazugehörigen Siedlung gab es keinen Mobilfunkempfang, genauer gesagt, in einem Umkreis von zwei Meilen nicht, weshalb der Suchtrupp mit Funkgeräten ausgestattet war. Außerdem gab es Festnetztelefone. Jetzt läutete das auf dem Schreibtisch von Mrs. Sigsby. Stackhouse griff hektisch danach. »Was gibt’s? Wer spricht da?«
Es war Dr. Felicia Richardson, die Zeke im Überwachungsraum abgelöst hatte. Dazu war sie gern bereit gewesen. Auch ihr Job stand auf dem Spiel, daran zweifelte sie nicht im Mindesten. »Ich hab einen von unseren Leuten in der Leitung. Einen Typen namens Jean Levesque. Er sagt, er hat das Boot gefunden, mit dem Ellis abgehauen ist. Soll ich Sie mit ihm verbinden?«
»Auf der Stelle!«
Mrs. Sigsby stand jetzt vor Stackhouse. Sie hatte die Hände gehoben und bildete mit den Lippen die Worte: Was gibt’s?
Stackhouse achtete nicht auf sie. Es klickte, dann war Levesque am Apparat. Er sprach einen so breiten St.-John-Valley-Dialekt, dass man sich darin hätte wälzen können. Gesehen hatte Stackhouse ihn noch nie, aber er stellte sich einen sonnengebräunten alten Kerl vor, in dessen Hutrand zwei, drei bunte Fischköder steckten.
»Ich hab das Boot gefunden.«
»Hat man mir schon gesagt. Wo denn?«
»Das Ding is etwa fünf Meilen stromaufwärts von Presque Isle auf ’ne Sandbank gelaufen. War ’ne Menge Wasser drin, aber der Griff vom Paddel – da war bloß ein einzelnes Paddel drin – lag aufm Sitz. Hab’s liegen lassen, wo es war, und mit niemand sonst telefoniert. Ach ja, an dem Paddel is Blut. Hörn Sie mal, ’n Stück weiter hoch sind ’n paar kleine Stromschnellen. Wenn der Jung, wo Sie nach suchen, nich orntlich mit ’nem Boot umgehen konnte, vor allem mit som kleinen…«
»Dann ist er da womöglich ins Wasser gefallen«, vollendete Stackhouse den Satz. »Bleiben Sie, wo Sie sind, ich schicke ein paar Leute zu Ihnen raus. Und vielen Dank.«
»Dafür krieg ich ja meine Kohle«, sagte Levesque. »Was der Jung angestellt hat, könn Sie mir wohl nich sagen, oder?«
Als Antwort auf diese besonders törichte Frage legte Stackhouse auf, dann informierte er Mrs. Sigsby. »Wenn wir Glück haben, ist der kleine Scheißer ersoffen, und jemand findet heute Nacht oder morgen seine Leiche, aber darauf können wir nicht zählen. Ich werde Rafe und John – mehr Leute hab ich ja nicht zur Verfügung, aber das wird sich in Zukunft garantiert ändern – sofort nach Presque Isle schicken. Wenn Ellis zu Fuß unterwegs ist, wird er da zuerst hinmarschieren. Falls er versucht, ein Auto anzuhalten, wird entweder die State Police oder irgendein Cop aus der Stadt ihn aufgreifen und festhalten. Schließlich ist das der übergeschnappte Junge, der seine Eltern umgebracht und es dann tatsächlich bis nach Maine geschafft hat.«
»Sind Sie so zuversichtlich, wie Sie sich anhören?«, fragte Mrs. Sigsby mit echter Neugier.
»Nein.«
16
Zum Abendessen durften die Insassen ihr Zimmer verlassen. Nach außen hin war es eine weitgehend schweigende Mahlzeit. Mehrere Pfleger und MTAs umkreisten die Tische wie Haie. Sie waren sichtlich unruhig und allzeit bereit, jedem, der frech wurde, eine Ohrfeige oder einen Stromstoß zu verpassen. Hinter dieser Stille war jedoch insgeheim eine nervöse Euphorie spürbar, so stark, dass sich Frieda Brown wie beschwipst fühlte. Jemand war geflohen. Darüber freuten sich alle Kinder, obgleich niemand es sich anmerken lassen wollte. War Frieda auch froh? Da war sie sich nicht so sicher. Teilweise ja, aber…
Avery, der neben ihr saß, vergrub seine zwei Würstchen erst in seinen Baked Beans und buddelte sie dann wieder aus. Das wiederholte er mehrfach. Frieda war zwar nicht so gescheit wie Luke Ellis, aber gescheit genug und wusste, was eingraben und ausbuddeln zu bedeuten hatte. Dafür wusste sie nicht, was passieren würde, wenn Luke das, was im Institut vor sich ging, gegenüber jemand ausplauderte, der ihm Glauben schenkte. Genauer gesagt, was mit ihnen passieren würde. Würde man sie freilassen? Nach Hause zu ihren Eltern schicken? Bestimmt wollten die anderen Kids das gern glauben, daher die heimliche Freude, aber Frieda hatte ihre Zweifel. Sie war zwar erst vierzehn, aber bereits eine hartgesottene Zynikerin. Die Comicfiguren, die sie zeichnete, lächelten zwar allesamt, sie selbst tat das hingegen äußerst selten. Außerdem wusste sie etwas, was die anderen nicht wussten. Man hatte Avery ins Büro von Mrs. Sigsby geschafft, wo er zweifellos alles verraten hatte.
Was bedeutete, dass man Luke erwischen würde.
»Sag mal, willst du das Zeug jetzt eigentlich essen oder bloß damit spielen?«
Avery schob seinen Teller weg und stand auf. Seit er aus dem Büro von Mrs. Sigsby zurückgekehrt war, sah er aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.
»Zum Nachtisch gibt’s Apple Pie mit Eis oder Schokoladenpudding«, sagte Frieda. »Und es ist nicht wie zu Hause – bei mir jedenfalls–, wo man aufessen muss, was auf dem Teller ist, um überhaupt was zu kriegen.«
»Hab keinen Hunger«, sagte Avery und zog ab.
Aber zwei Stunden später, nachdem die Kinder wieder in ihr Zimmer geschickt worden waren (der Aufenthaltsraum samt Cafeteria wurde für den heutigen Abend zur Sperrzone erklärt, und die Tür zum Spielplatz war abgeschlossen), kam er in seinem Pyjama in Friedas Zimmer getappt, verkündete, dass er hungrig sei, und fragte, ob sie ein paar Münzen für ihn habe.
»Soll das ein Witz sein?«, sagte Frieda. »Ich bin doch gerade erst angekommen.« In Wahrheit besaß sie drei Münzen, aber die würde sie Avery nicht geben. Sie mochte ihn zwar, aber dafür nicht genug.
»Ach so. Okay.«
»Geh ins Bett. Solange du schläfst, spürst du bestimmt keinen Hunger, und wenn du aufwachst, gibt es Frühstück.«
»Kann ich bei dir schlafen, Frieda? Weil Luke jetzt nicht mehr da ist?«
»Du musst doch in deinem Zimmer sein. Sonst kriegen wir Ärger.«
»Ich will aber nicht alleine schlafen. Die haben mir wehgetan. Mir Lektroschocks verpasst. Was ist, wenn sie wiederkommen und mir noch mehr wehtun? Das tun sie nämlich vielleicht, wenn sie rauskriegen…«
»Was denn?«
»Nichts.«
Frieda dachte nach. Überhaupt dachte sie ständig über viele Dinge nach. Im Nachdenken war Frieda Brown aus Springfield, Missouri, absolut top. »Na gut. Geh schon mal ins Bett. Ich bleibe noch eine Weile auf. Im Fernsehen läuft ein Film über wilde Tiere, den ich sehen will. Hast du gewusst, dass manche wilden Tiere ihre Babys fressen?«