»Echt?« Avery blickte betroffen drein. »Das ist aber unheimlich traurig.«
Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Meistens tun sie’s ja nicht.«
»Ach so. Das ist gut.«
»Genau. Geh jetzt ins Bett und halt die Klappe. Ich hasse es, wenn jemand quasselt, wenn ich in Ruhe fernsehen will.«
Avery legte sich ins Bett. Frieda sah sich in Ruhe die Sendung über wilde Tiere an. Da kämpfte ein Alligator mit einem Löwen. Vielleicht war es aber auch ein Krokodil. Auf jeden Fall war es interessant. Avery war ebenfalls interessant. Weil Avery ein Geheimnis hatte. Wäre sie so stark TP wie er, wüsste sie bereits, was sein Geheimnis war. So wusste sie nur, dass er etwas verheimlichte.
Als sie sich sicher war, dass er schlief (er schnarchte – leise, wie es sich für einen kleinen Jungen gehörte), schaltete sie das Licht aus, stieg zu ihm ins Bett und schüttelte ihn. »Avery!«
Grunzend machte er Anstalten, sich von ihr wegzudrehen. Was sie nicht zuließ.
»Avery, wo ist Luke hin?«
»Prekile«, murmelte er.
Sie hatte keine Ahnung, was Prekile war, und das interessierte sie auch nicht, weil es sowieso nicht stimmte.
»Komm schon, wo ist er hin? Ich sag’s bestimmt nicht weiter.«
»Die rote Treppe hoch«, sagte Avery, der mehr oder weniger schlief. Wahrscheinlich meinte er zu träumen.
»Was für eine rote Treppe?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er antwortete nicht, und als er sich nun wieder von ihr wegdrehen wollte, ließ sie es zu. Weil sie erfahren hatte, was sie brauchte. Anders als Avery (und als Kalisha, zumindest an guten Tagen) konnte sie nicht richtig Gedanken lesen. Vielmehr hatte sie Ahnungen, die wahrscheinlich auf Gedanken basierten, und manchmal, wenn jemand ungewöhnlich offen war (zum Beispiel ein kleiner Junge, der mehr oder weniger schlief), sah sie kurz strahlend helle Bilder.
Sie legte sich auf den Rücken, blickte an die Zimmerdecke und dachte nach.
17
Zweiundzwanzig Uhr. Es war still im Institut.
Sophie Turner, eine für die Nachtschicht eingeteilte Pflegerin, saß auf dem Spielplatz am Picknicktisch, rauchte unerlaubt eine Zigarette und klopfte die Asche in die Verschlusskappe eines Vitamingetränks. Neben ihr saß Dr. Evans und hatte ihr die Hand auf den Oberschenkel gelegt. Er beugte sich zu ihr und küsste sie am Hals.
»Lass das, Jimmy«, sagte sie. »Nicht heute Abend, wo alle in höchster Alarmbereitschaft sind. Man weiß nie, wer einen gerade beobachtet.«
»Du rauchst als Angestellte des Instituts eine Zigarette, obwohl alle in Alarmbereitschaft sind«, sagte er. »Wenn du schon ein schlimmes Mädchen sein willst, warum nicht gleich ein richtig schlimmes?«
Er schob die Hand höher, und während sie überlegte, ob sie die dort lassen sollte oder nicht, blickte sie sich um und sah ein Mädchen – eine von den Neuen – hinter der Tür zum Aufenthaltsraum stehen. Das Mädchen hatte die Handflächen an die Glasscheibe gelegt und starrte zu ihnen heraus.
»Verdammte Scheiße!«, sagte Sophie. Sie schob die Hand von Evans weg und drückte ihre Zigarette aus. Dann schritt sie zur Tür, entriegelte sie, riss sie auf und packte die kleine Voyeurin am Nacken. »Sag mal, was soll denn das? Heute Abend hast du hier nichts zu suchen, hast du das nicht mitgekriegt? Der Aufenthaltsraum ist für euch gesperrt! Falls ich dir also nicht den Arsch versohlen soll, und zwar anständig, verschwindest du schleunigst wieder in…«
»Ich will mit Mrs. Sigsby sprechen«, sagte das Mädchen. »Jetzt sofort.«
»Hast du nicht alle Tassen im Schrank? Zum letzten Mal, geh in dein Zimmer, oder…«
Dr. Evans drängte sich an Sophie vorbei, ohne sich zu entschuldigen. Heute würde sie den nicht mehr an sich ranlassen, beschloss sie.
»Frieda?«, sagte er. »Du bist Frieda, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wie wär’s, wenn du mir erzählst, was du auf dem Herzen hast?«
»Ich kann bloß mit ihr sprechen. Weil sie die Chefin ist.«
»Das stimmt, und die Chefin hat einen harten Tag hinter sich. Erzähl es also mir, dann kann ich entscheiden, ob es wichtig genug ist, es ihr mitzuteilen.«
»Ach komm«, sagte Sophie. »Merkst du eigentlich nicht, wenn eins von den Bälgern dich verarschen will?«
»Ich weiß, wo Luke hin ist«, sagte Frieda. »Ihnen werd ich das nicht sagen, aber Mrs. Sigsby schon.«
»Sie lügt«, sagte Sophie.
Frieda würdigte sie keines Blickes. Sie sah Dr. Evans in die Augen. »Tu ich nicht.«
Die innere Debatte, die Evans mit sich führte, war kurz. Bald war Luke Ellis seit vollen vierundzwanzig Stunden verschwunden, er konnte wer weiß wo sein und wer weiß wem irgendwas erzählen – einem Cop oder – Gott behüte! – einem Journalisten. Es war nicht die Aufgabe von Evans zu entscheiden, ob die Behauptung des Mädchens stimmte, so weit hergeholt sie auch klang. Das war die Aufgabe von Mrs. Sigsby. Seine Aufgabe war es, keinen Fehler zu machen, mit dem er sich in die Scheiße manövrieren konnte. Ohne Rettungsring.
»Hoffentlich sagst du die Wahrheit, Frieda, sonst geht’s dir an den Kragen. Das ist dir doch klar, oder?«
Sie sah ihn nur unverwandt an.
18
Zwanzig nach zehn.
Der Güterwagen mit der Aufschrift Southway Express, in dem Luke hinter Motorsensen, Rasentraktoren und Kisten mit Außenbordmotoren schlief, überquerte die Grenze zwischen New York und Pennsylvania und kam auf eine Ausbaustrecke, auf der er die folgenden drei Stunden fahren würde. Hier beschleunigte er auf einhundertzwanzig Stundenkilometer – wehe allen, die mit dem Auto auf einem Bahnübergang stehen geblieben waren oder auf den Gleisen pennten.
Im Büro von Mrs. Sigsby stand Frieda Brown vor dem Schreibtisch. Sie trug einen rosa Pyjama mit Füßen, der hübscher war als alle, die sie zu Hause hatte. Die Haare hatte sie wie tagsüber zu Zöpfen gebunden, die Hände am Rücken verschränkt.
Stackhouse lag in der kleinen Privatwohnung neben dem Büro auf dem Sofa und machte ein Nickerchen. Mrs. Sigsby sah keinen Grund, ihn aufzuwecken. Fürs Erste. Sie musterte das Mädchen und sah nichts Bemerkenswertes. Frieda passte bestens zu ihrem Familiennamen: braune Augen, mausbraune Haare, sommerlich milchkaffeebraune Haut. Laut ihrer Akte war auch ihr BDNF-Spiegel nicht bemerkenswert, jedenfalls nicht nach Institutsmaßstäben. Anders gesagt, war er nützlich, aber nicht erstaunlich. In ihren braunen Augen lag jedoch etwas. Irgendetwas. So etwas wie der Blick einer Bridge- oder Whistspielerin, die mehrere Trümpfe auf einmal in der Hand hielt.
»Dr. Evans sagt, dass du zu wissen glaubst, wo sich der vermisste Junge aufhält«, sagte Mrs. Sigsby. »Möchtest du mir vielleicht mitteilen, woher dieser Gedankenblitz gekommen ist?«
»Von Avery«, sagte Frieda. »Der ist in mein Zimmer gekommen. Da schläft er jetzt gerade.«
Mrs. Sigsby lächelte. »Da bist du leider ein bisschen spät dran, meine Liebe. Mr. Dixon hat uns bereits alles gebeichtet, was er weiß.«
»Er hat Sie angelogen.« Frieda hatte die Hände immer noch am Rücken verschränkt und war oberflächlich ruhig, aber Mrs. Sigsby hatte es schon mit vielen, vielen Kindern zu tun gehabt und wusste, dass das Mädchen da Angst hatte. Frieda wusste um das Risiko, das sie einging. Dennoch drückten ihre braunen Augen Gewissheit aus. Es war faszinierend.
Stackhouse kam herein, noch damit beschäftigt, sein Hemd in den Hosenbund zu stecken. »Wer ist das?«
»Frieda Brown, ein kleines Mädchen, das fabuliert«, sagte Mrs. Sigsby. »Du weißt bestimmt nicht, was das bedeutet, meine Liebe.«
»Doch, weiß ich«, sagte Frieda. »Es bedeutet, dass ich lüge, und das tue ich nicht!«
»Avery Dixon hat auch nicht gelogen. Ich habe es schon zu Mr. Stackhouse gesagt, und jetzt sage ich es dir: Ich weiß, wenn ein Kind lügt.«