»Noch nicht«, konterte er.
»Was nun?«
»Wir warten auf den Anruf von Rafe und John.«
Was sie auch taten. Die Geisterstunde kam und ging. Kurz nach halb eins läutete das Telefon auf dem Schreibtisch wieder. Diesmal war Mrs. Sigsby schneller als Stackhouse. Sie bellte ihren Namen und lauschte. Dabei nickte sie unablässig.
»In Ordnung. Alles klar. Gehen Sie jetzt rauf zu diesem Rangierbahnhof, und bringen Sie in Erfahrung, ob da noch jemand im Dienst ist… Ach so. In Ordnung. Danke.«
Sie legte auf und sah Stackhouse an.
»Das war Ihre Sicherheitstruppe.« Was sie in reichlich sarkastischem Ton sagte, weil besagte Truppe in dieser Nacht lediglich aus zwei Männern in den Fünfzigern bestand, die beide nicht in bester körperlicher Verfassung waren. »Die kleine Brown hat recht gehabt. Sie haben die Treppe gefunden, sie haben Schuhabdrücke gefunden, und auf halber Höhe haben sie sogar ein paar blutige Fingerabdrücke gefunden. Rafe meint, Ellis hat sich dort hingesetzt, um sich entweder auszuruhen oder seine Schuhe neu zu binden. Die beiden haben Taschenlampen dabei, sagen aber, sie könnten wahrscheinlich erst weitere Spuren entdecken, wenn es hell ist.« Sie machte eine Pause. »Am Bahnhof haben sie übrigens schon nachgeschaut. Da ist niemand, nicht mal ein Nachtwächter.«
Obwohl der Raum auf angenehme zweiundzwanzig Grad heruntergekühlt war, wischte Stackhouse sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Das ist schlecht, Julia, aber vielleicht können wir den Schaden trotzdem in Grenzen halten, ohne zu dem da zu greifen.« Er deutete auf die unterste Schublade ihres Schreibtischs, wo das Nullfon wartete. »Falls er in Sturbridge zur Polizei gegangen ist, ist unsere Lage natürlich wesentlich heikler. Und er hatte fünf Stunden Zeit, das zu tun.«
»Selbst wenn er da ausgestiegen ist, hat er vielleicht darauf verzichtet«, sagte sie.
»Aber weshalb? Schließlich hat er keine Ahnung, dass er verdächtigt wird, seine Eltern ermordet zu haben. Er weiß ja nicht mal, dass die tot sind.«
»Er weiß es vielleicht nicht, aber mit großer Sicherheit ahnt er es. Er ist ziemlich schlau, vergessen Sie das nicht. Wissen Sie, was ich an seiner Stelle als Erstes täte, wenn ich in Sturbridge, Massachusetts, um…« Sie warf einen Blick auf den Notizblock. »… um vier oder fünf Uhr nachmittags aus einem Güterzug geschlüpft wäre? Ich wäre schleunigst zur Stadtbibliothek marschiert und dort ins Internet gegangen. Um mich zu informieren, was zu Hause passiert ist.«
Diesmal blickten sie beide auf die verschlossene Schublade.
»Okay, wir müssen den Radius erweitern«, sagte Stackhouse. »Das passt mir zwar nicht, aber wir haben eigentlich keine andere Wahl. Schauen wir nach, wen wir in der Gegend von Sturbridge haben. Der soll rauskriegen, ob der Junge dort aufgetaucht ist.«
Mrs. Sigsby setzte sich an ihren Schreibtisch, um genau das zu veranlassen, doch gerade als sie nach ihrem Telefon griff, läutete es. Sie lauschte kurz, dann reichte sie es an Stackhouse weiter.
Es war Andy Fellowes, der fleißig gewesen war. Es gab tatsächlich eine Nachtschicht in Sturbridge, und als Fellowes sich als Logistikmanager von Downeast Freight ausgegeben und erklärt hatte, er stelle Nachforschungen nach einer möglicherweise verloren gegangenen Sendung mit lebenden Hummern an, war der Bahnhofsvorsteher gern bereit, ihm Auskunft zu geben. Nein, in Sturbridge seien keine lebenden Hummer ausgeladen worden. Und ja, die meisten Wagen von Zug Nr. 4297 seien weitergeleitet worden, nur mit einer wesentlich stärkeren Lokomotive. Der betreffende Güterzug habe die Nummer 9956 und fahre in südlicher Richtung über Richmond, Wilmington, DuPray, Brunswick und Tampa nach Miami.
Das notierte Stackhouse alles, dann erkundigte er sich nach den beiden Städten, deren Namen er nicht kannte.
»DuPray liegt in South Carolina«, erklärte ihm Fellowes. »Eigentlich bloß ein kleines Kaff mitten in der Pampa, aber es ist ein Knotenpunkt für aus Westen kommende Züge. Es gibt ein paar Lagerhäuser da, wahrscheinlich existiert die Stadt überhaupt nur deshalb. Brunswick ist in Georgia und ein ganzes Stück größer. Kann mir vorstellen, dass dort allerhand landwirtschaftliche Produkte und Meeresfrüchte verladen werden.«
Stackhouse legte auf und sah Mrs. Sigsby ernst an. »Mal angenommen…«
»Angenommen«, wiederholte Mrs. Sigsby. »Das Wort ist reiner Hohn. Damit ver…«
»Halten Sie die Luft an.«
Niemand sonst hätte Mrs. Sigsby derart schroff (und auch noch so unhöflich) angehen dürfen, aber es durfte sie auch niemand sonst mit dem Vornamen anreden. Stackhouse schritt im Zimmer umher. Sein kahler Schädel glänzte im Licht. Manchmal fragte sie sich, ob er seine Glatze tatsächlich polierte.
»Wen haben wir in der Einrichtung zur Verfügung?«, sagte er. »Ich werde es mal aufzählen. Lediglich etwa vierzig Angestellte im Vorderbau, dazu zwei Dutzend im Hinterbau, Heckle und Jeckle nicht eingerechnet. Weil wir darauf achten, dass nichts nach außen dringt. Das ist notwendig, hilft uns heute aber nicht. In der Schublade da liegt ein Telefon, mit dem wir allerhand effiziente Unterstützung rufen könnten, aber wenn wir zu dieser Maßnahme greifen, hat das Auswirkungen auf unser Leben, und zwar keine positiven.«
»Wenn wir zu diesem Telefon greifen müssen, ist unser Leben eventuell sogar beendet«, sagte Mrs. Sigsby.
Das ignorierte er. »Wir haben Zuträger im ganzen Land, ein gutes Informationsnetzwerk, zu dem untergeordnete Cops und Krankenhausmitarbeiter, Hotelangestellte, Journalisten bei kleinen Lokalzeitungen und Rentner gehören, die viel Zeit zur Verfügung haben, das Internet zu durchforschen. Außerdem haben wir mehrere Extraktionsteams zur Verfügung inklusive Privatflugzeug, das diese Leute praktisch überallhin schaffen kann, und das ziemlich zügig. Und wir haben unseren Verstand, Julia, unseren Verstand! Der Junge ist zwar ein Schachspieler, die Pfleger haben ihn draußen ständig mit Wilholm spielen sehen, aber jetzt spielen wir Schach in der realen Welt, und das hat er noch nie getan. Daher: angenommen.«
»Na gut.«
»Angenommen, wir beauftragen jemand damit, sich bei der Polizei in Sturbridge zu melden. Mit derselben Geschichte, die wir in Presque Isle verbreitet haben – unser Mann behauptet, er hat einen Jungen gesehen, bei dem es sich eventuell um Ellis handelt. Dasselbe sollten wir auch in Portland und Portsmouth machen, obwohl ich mir absolut nicht vorstellen kann, dass er den Zug so früh verlassen hat. Sturbridge ist wesentlich wahrscheinlicher, aber ich glaube, unser Mann dort wird ebenfalls nichts zu hören bekommen.«
»Sind Sie sich sicher, dass das nicht bloß reines Wunschdenken ist?«
»Ach, wünschen tu ich mir so allerhand. Aber wenn er nicht blind durch die Gegend rennt, sondern nachdenkt, ist das durchaus logisch.«
»Als Zug Nummer 4297 zu Nummer 9956 geworden ist, ist er an Bord geblieben. Das ist Ihre Annahme.«
»Genau. Der 9956 hält ungefähr um zwei Uhr morgens in Richmond. Wir brauchen jemand, vorzugsweise mehrere Leute, die ihn dort beobachten. Ebenso in Wilmington, wo der Zug zwischen fünf und sechs hält. Aber wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass er in einem von den beiden Orten aussteigt.«
»Sie meinen, er wird bis zur Endstation mitfahren.« Trevor, dachte sie, du steigst auf deiner Leiter aus Annahmen immer höher, und jede Sprosse ist dünner als die vorige.
Aber was sollte man sonst tun, nachdem der Junge verschwunden war? Wenn sie das Nullfon nahm und anrief, würde sie zu hören kriegen, dass sie auf so etwas hätte vorbereitet sein müssen. Das war leichter gesagt als getan, denn wie hätte irgendjemand vorhersehen können, dass ein zwölfjähriges Kind verzweifelt genug wäre, sich das Ohrläppchen abzusäbeln, um den Ortungschip loszuwerden? Oder dass eine Haushälterin zur Fluchthelferin würde? Was das anging, würde sie zu hören kriegen, das Personal sei offenbar faul und bequem geworden… Und was sollte sie darauf entgegnen?