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»… mitfahren.«

Sie kam zurück ins Hier und Jetzt und bat ihn, seinen Satz zu wiederholen.

»Ich sagte, er wird nicht unbedingt bis zur Endstation mitfahren. Ein derart cleverer Junge wie er wird wissen, dass wir dort Leute postieren werden, falls wir das mit dem Zug herausbekommen haben. Außerdem glaube ich nicht, dass er in einer dicht besiedelten Region aussteigen will. Besonders nicht in einer ihm völlig fremden Großstadt wie Richmond, und das auch noch mitten in der Nacht. Wilmington kommt eher infrage – das ist kleiner, und wenn der 9956 dort eintrifft, ist es bereits hell–, aber ich neige zu einem von den Käffern. Das wären entweder DuPray in South Carolina oder Brunswick in Georgia. Vorausgesetzt, er befindet sich überhaupt in diesem Zug.«

»Vielleicht weiß er nicht mal, wohin der fährt, nachdem er Sturbridge verlassen hat. In dem Fall bleibt er eventuell doch bis zum Ende drin.«

»Wenn sich in dem Wagen, in dem er hockt, irgendwelche adressierte Fracht befindet, weiß er Bescheid.«

Mrs. Sigsby wurde klar, dass sie seit Jahren nicht mehr so viel Angst gehabt hatte. Vielleicht hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht so viel Angst gehabt. Stellten sie begründete Vermutungen an oder rieten sie nur wild herum? Und falls Letzteres zutraf, wie wahrscheinlich war es dann, dass sie so oft hintereinander das Richtige erraten konnten? Mehr konnten sie allerdings nicht tun, weshalb sie nickte. »Wenn er an einem von den kleineren Bahnhöfen aussteigt, könnten wir ein Extraktionsteam hinschicken, das ihn wieder herbringt. Ach Gott, Trevor, das wäre ideal!«

»Lieber gleich zwei Teams. Opal und Ruby Red. Letzteres hat ihn bekanntlich schon das erste Mal zu uns gebracht. Da würde sich der Kreis hübsch schließen, meinen Sie nicht auch?«

Mrs. Sigsby seufzte. »Wenn wir bloß mit absoluter Sicherheit wüssten, dass er in dem Zug sitzt.«

»Absolut sicher bin ich mir nicht, aber doch ziemlich sicher, und das muss ausreichen.« Stackhouse schenkte ihr ein Lächeln. »Setzen Sie sich ans Telefon, und wecken Sie ein paar Leute auf. Fangen Sie in Richmond an. Landesweit geben wir für diese Jungs und Mädels da draußen jährlich etwa eine Million Dollar aus. Sorgen wir dafür, dass wenigstens einige von denen sich das Geld wirklich verdienen.«

Eine halbe Stunde später legte Mrs. Sigsby den Telefonhörer wieder auf. »Wenn er in Sturbridge ist, dann versteckt er sich in einem Abzugskanal, einem verlassenen Haus oder so – die Polizei hat ihn nicht aufgegriffen, sonst hätte man das im Funk gehört. In Richmond und Wilmington werden unsere Leute den Zug beobachten, wenn er dort hält, und sie haben einen guten Vorwand dafür.«

»Hab ich schon mitbekommen. Gut gemacht, Julia.«

Sie hob müde die Hand, um ihm zu danken. »Wer ihn sieht, bekommt einen stattlichen Bonus, und der wird noch wesentlich stattlicher ausfallen, wenn unsere Leute eine Chance sehen sollten, den Jungen aufzugreifen und ihn an einem sicheren Ort festzuhalten, bis wir ihn holen kommen. In Richmond ist das zwar wenig wahrscheinlich, unsere zwei Leute da sind stinknormale Bürger, aber einer von den Burschen in Wilmington ist bei der Polizei. Beten wir, dass er dort aussteigt.«

»Was ist mit DuPray und Brunswick?«

»In Brunswick werden zwei Personen auf der Lauer liegen, der Pfarrer einer Methodistenkirche aus einem nahe gelegenen Ort und seine Frau. In DuPray haben wir nur einen, aber dafür wohnt er direkt in der Stadt. Er ist der Besitzer des einzigen Motels dort.«

20

Luke steckte wieder im Wassertank. Zeke hielt ihn unten, während die Stass-Lichter vor seinen Augen wirbelten. Außerdem waren sie auch in seinem Kopf, was zehnmal schlimmer war. Er würde ertrinken, während er sie sah.

Als er wild um sich schlagend aufwachte, dachte er zuerst, das Kreischen, das er hörte, würde von ihm selbst stammen, und er fragte sich, wie er unter Wasser einen derartigen Lärm veranstalten konnte. Dann fiel ihm ein, dass er sich in einem Güterwagen befand, der zu einem fahrenden Zug gehörte, und der wiederum bremste gerade stark ab. Was da kreischte, waren stählerne Räder auf stählernen Schienen.

Die farbigen Punkte blieben einen Moment erhalten, dann verblassten sie. Es war pechschwarz im Wagen. Luke versuchte, seine verkrampften Muskeln zu dehnen, und stellte fest, dass er eingeklemmt war. Drei oder vier von den Pappkartons mit Außenbordmotoren waren von ihrem Stapel gefallen. Vielleicht hatte er sie beim Herumzappeln in seinem Albtraum heruntergestoßen, aber es konnte auch sein, dass das allein durch die Kraft seiner Gedanken geschehen war, als ihn diese verdammten Lichter in der Gewalt gehabt hatten. Früher war seine mentale Kraft darauf beschränkt gewesen, ein Pizzablech vom Tisch zu schieben oder die Seiten eines Buchs flattern zu lassen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Er hatte sich geändert. Wie sehr, wusste er allerdings nicht und wollte es auch nicht wissen.

Der Zug wurde noch etwas langsamer und rumpelte über mehrere Weichen. Luke spürte, dass er sich in einem miserablen Zustand befand. Sein Körper meldete zwar noch nicht Alarmstufe Rot, aber bei Gelb war er eindeutig angelangt. Luke war hungrig, was schlimm genug war, aber im Vergleich zu seinem Durst kam ihm sein leerer Magen nebensächlich vor. Er erinnerte sich daran, wie er zu dem am Flussufer liegenden Ruderboot hinuntergerutscht war und sich dann kaltes Wasser in den Mund geschöpft hatte. Für so einen Schluck Flusswasser hätte er jetzt alles gegeben. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, was jedoch nicht viel brachte, da auch die Zunge ziemlich trocken war.

Sobald der Zug zum Halten gekommen war, stapelte Luke die Pappkartons im Finstern wieder auf. Sie waren schwer, aber er schaffte es trotzdem. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, weil die Tür des Wagens in Sturbridge vollständig geschlossen worden war. Trübselig zog er sich wieder in sein Versteck hinter den Kartons und den Gartengeräten zurück und wartete.

Trotz Hunger, Durst, voller Blase und pochendem Ohr war er wieder eingedöst, als die Tür des Güterwagens rasselnd aufging. Eine Flut Mondlicht fiel herein. Zumindest kam es Luke nach der Finsternis, in der er vorher aufgewacht war, wie eine Flut vor. Ein Lastwagen fuhr rückwärts an die Tür heran, und eine laute Männerstimme war zu hören.

»Weiter… bisschen noch… langsam… noch ein kleines Stück… halt!«

Der Motor des Lastwagens ging aus, dann rasselte dessen Ladetür nach oben, und ein Mann sprang in den Güterwagen. Luke roch Kaffee, worauf sein Magen so laut knurrte, dass der Mann es einfach hören musste. Aber nein – als Luke zwischen einem Rasentraktor und einem normalen Rasenmäher hindurchspähte, sah er, dass der in einen Arbeitsanzug gekleidete Mann Ohrhörer trug.

Ein zweiter Mann kam dazu und stellte eine Handlampe auf den Boden, die glücklicherweise auf die Tür gerichtet war und nicht dorthin, wo Luke kauerte. Dann zogen die beiden eine Metallrampe aus dem Laster und fingen an, Kisten in den Güterwagen zu karren. Auf jeder stand KOHLER, DIESE SEITE OBEN und ACHTUNG, EMPFINDLICHE WARE! Egal was da drin war, hier war noch nicht die Endstation.

Nachdem die beiden Männer bestimmt zwölf Kisten verladen hatten, machten sie Pause und aßen Donuts aus einer Papiertüte. Luke musste alles zu Hilfe rufen, was ihm einfiel – die Erinnerung daran, wie Zeke ihn im Wassertank untergetaucht hatte, die Erinnerung an die Wilcox-Zwillinge, den Gedanken daran, dass das Schicksal von Kalisha und Nicky und so vielen anderen von ihm abhing–, um nicht aus seinem Versteck zu schlüpfen und die Männer da um einen Bissen anzubetteln, nur einen einzigen Bissen. Womöglich hätte er das trotz allem getan, wenn nicht einer der beiden etwas gesagt hätte, was ihn erstarren ließ.

»Sag mal, du hast nicht zufällig einen Jungen durch die Gegend rennen sehen, oder?«