»Hä?« Mit einem Mund voll Donut.
»Ob du einen Jungen gesehen hast. Als du rübergegangen bist, um dem Lokführer seine Thermosflasche zu bringen.«
»Was soll ein Junge denn hier draußen machen? Es ist halb drei Uhr morgens!«
»Ach, als ich die Donuts besorgt hab, hat mich ein Typ angesprochen. Hat gesagt, sein Schwager aus Massachusetts hätte ihn mitten im Schlaf angerufen und gebeten, sich hier am Bahnhof umzuschauen. Weil sein Sohn, also der von dem Typ aus Massachusetts, von zu Hause ausgerissen wär, und der hätte immer davon gefaselt, er wollte auf ’nem Güterzug nach Kalifornien fahren.«
»Das ist doch ganz woanders.«
»Ich weiß das. Du weißt das auch. Aber ob ein Junge das weiß?«
»Wenn der in der Schule nicht gepennt hat, weiß er, dass Richmond nicht gerade in der Nähe von Los Angeles liegt, verdammt noch mal.«
»Klar, aber es ist ein Knotenpunkt. Der Typ hat gesagt, dass der Junge vielleicht in dem Zug hier war und dann ausgestiegen ist, um einen anderen Zug nach Westen zu erwischen.«
»Gut, aber ich hab trotzdem keinen Jungen gesehen.«
»Der Typ hat gesagt, sein Schwager würde ’ne Belohnung zahlen.«
»Selbst wenn der ’ne Million zahlen würde, Billy, tät ich immer noch keinen Jungen sehen, außer da wär einer, den man sehen könnte.«
Wenn mein Magen noch mal knurrt, bin ich erledigt, dachte Luke. Definitiv.
Draußen rief jemand: »Billy! Duane! Noch zwanzig Minuten, Jungs, macht endlich, dass ihr fertig werdet!«
Billy und Duane verluden ein paar weitere Kohler-Kisten in den Güterwagen, dann schoben sie ihre Rampe wieder in den Laster und fuhren davon. Luke hatte gerade noch Zeit, die Silhouette einer Großstadt zu erspähen – welche Stadt das war, wusste er nicht–, dann kam ein Mann mit Overall und Eisenbahnermütze, um die Tür zuzuschieben… aber diesmal wieder nicht vollständig. Wahrscheinlich gab es da irgendein Hindernis, das die Rollen blockierte. Weitere fünf Minuten vergingen, bevor sich der Zug ruckelnd in Bewegung setzte, erst langsam über mehrere Weichen fuhr und dann schneller wurde.
Irgendein Typ, der sich als Schwager von irgendeinem anderen Typen bezeichnet hatte.
Und der was von einem Jungen gefaselt hatte, der auf einem Güterzug durch die Gegend reisen wollte.
Inzwischen wussten sie also, dass er verschwunden war, und selbst wenn sie das Boot stromabwärts von Dennison River Bend gefunden hatten, hatten sie sich nicht täuschen lassen. Bestimmt hatten sie Maureen zum Reden gebracht. Oder Avery. Die Vorstellung, dass man den Avester gefoltert hatte, um ihm Informationen zu entlocken, war zu schrecklich, deshalb schob er sie lieber weg. Wenn man Leute hierhergeschickt hatte, um nach ihm Ausschau zu halten, dann warteten auch beim nächsten Halt Leute auf ihn, und bis dahin war es wahrscheinlich hell. Vielleicht hielten die Leute sich zurück und beschränkten sich darauf, Bericht zu erstatten, aber genauso gut konnten sie auch versuchen, ihn gefangen zu nehmen. Je nachdem, wer in der Nähe war und sie dabei beobachtete. Und ob sie zum Äußersten entschlossen waren oder nicht. Auch davon hing sein Schicksal ab.
Wahrscheinlich habe ich mich selbst ausgetrickst, indem ich diesen Zug genommen habe, dachte Luke. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Eigentlich hätten sie es nicht so schnell herausbekommen dürfen.
Immerhin konnte er ein Problem jetzt sofort loswerden. Er hielt sich am Sitz eines Rasentraktors fest, um im Gleichgewicht zu bleiben, schraubte die Tankkappe einer Bodenfräse Marke John Deere ab, öffnete seinen Reißverschluss und pisste gefühlte fünf Liter in den leeren Benzintank. Das war nicht besonders nett, wenn nicht gar ein extrem übler Streich, den er da dem zukünftigen Besitzer der Fräse spielte, aber schließlich hatten ihn außergewöhnliche Umstände dazu genötigt. Er setzte die Kappe wieder auf und schraubte sie fest. Dann ließ er sich auf dem Sitz des Rasentraktors nieder, legte die Hände auf seinen leeren Bauch und schloss die Augen.
Denk an dein Ohr, befahl er sich. Denk an die Kratzer an deinem Rücken. Denk an all deine Schmerzen, dann vergisst du, wie hungrig und durstig du bist.
Für eine Weile funktionierte sein Trick, dann nicht mehr. Was sich in seinen Kopf einschlich, war die lebhafte Vorstellung, wie die Kids im Institut in ein paar Stunden ihre Zimmer verlassen und zum Frühstück in die Cafeteria gehen würden. Es gelang ihm nicht, die Bilder zu verdrängen, die er vor sich sah: Karaffen mit Orangensaft und den mit rotem Fruchtpunsch gefüllten Trinkbrunnen. Wenn er jetzt bloß dort wäre! Dann würde er zuallererst ein Glas von beidem trinken und sich dann ordentlich Rührei und Bacon vom Büfett auf seinen Teller laden.
Aber er konnte sich doch nicht ernsthaft wünschen, dort zu sein! Das wäre doch schlicht verrückt.
Dennoch tat ein Teil von ihm genau das.
Er öffnete die Augen, um die Bilder loszuwerden. Das mit den Orangensaftkaraffen war hartnäckig und wollte nicht verschwinden… aber da sah er etwas in der Lücke zwischen den neuen Kisten und den Gartengeräten. Zuerst dachte er, das durch den Türspalt hereinfallende Mondlicht würde ihn täuschen, wenn er nicht gar eine richtige Halluzination hatte, aber als er zweimal blinzelte und danach das, was er da sah, immer noch vorhanden war, stieg er von dem Traktorsitz herunter und kroch darauf zu. Rechts vom ihm zogen mondbleiche Felder vorüber, aber er hatte den Blick fest auf das gerichtet, was da auf dem Boden lag: Donutkrümel.
Und ein Stück, das größer als ein Krümel war.
Das hob er zuerst auf. Um an die kleineren zu gelangen, befeuchtete er erst einmal seinen Daumen. Und da er Angst hatte, dass die kleinsten Krümel in den Bodenritzen verschwinden könnten, beugte er sich schließlich vor, streckte die Zunge heraus und leckte die Krümel auf.
21
Momentan war Mrs. Sigsby an der Reihe, sich auf dem Sofa nebenan eine Mütze Schlaf zu holen, und Stackhouse hatte die Tür zugemacht, damit sie von keinem Telefon – ob Festnetz oder sein Spezialgerät – gestört werden konnte. Um zehn vor drei rief Fellowes aus dem Überwachungsraum an.
»Der 9956 hat Richmond verlassen«, sagte er. »Keine Spur von dem Jungen.«
Stackhouse seufzte, rieb sich das Kinn und spürte die Bartstoppeln darauf. »Okay.«
»Schade, dass wir den Zug nicht einfach anhalten und durchsuchen lassen können. Um die Frage, ob der Bursche drin ist oder nicht, ein für alle Mal zu klären.«
»Schade ist bekanntlich auch, dass nicht alle Menschen auf der Welt im Kreis stehen und ›Give Peace a Chance‹ singen. Um wie viel Uhr kommt der Zug in Wilmington an?«
»Normalerweise gegen sechs. Oder etwas früher, falls er ein bisschen Zeit aufholt.«
»Wie viele Leute haben wir dort?«
»Aktuell zwei, ein weiterer Mann ist auf dem Weg von Goldsboro dorthin.«
»Die wissen doch hoffentlich, dass sie keinen Druck machen sollen, oder? Leute, die Druck machen, erregen Verdacht.«
»Ich glaube, das kriegen die schon hin. Schließlich haben sie ’ne gute Story parat. Jugendlicher Ausreißer, besorgte Eltern.«
»Hoffentlich. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Dr. Hendricks betrat das Büro, ohne zu klopfen. Unter seinen Augen waren Ringe, seine Kleidung war verknittert, und seine stahlgrauen Haare standen zu Berge. »Gibt’s was Neues?«
»Noch nicht.«
»Wo ist Mrs. Sigsby?«
»Die ruht sich gerade aus, was dringend nötig ist.« Stackhouse lehnte sich in ihrem Sessel zurück und dehnte die Arme. »Der kleine Dixon war noch nicht im Wassertank, oder?«
»Natürlich nicht.« Schon wegen der Vorstellung blickte Donkey Kong leicht verschnupft drein. »Schließlich ist er kein Pink, ganz im Gegenteil. Es wäre geradezu irrsinnig, wenn wir das Risiko eingingen, jemand mit einem derart hohen BDNF zu schädigen. Oder wenn wir riskieren würden, seine Fähigkeiten zu erweitern. Was unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich wäre. Da würde Sigsby mich ans Messer liefern.«