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»Heilige Scheiße, Kleiner, wer hat dir denn das Ohrläppchen abgerissen?«

Luke versuchte, etwas zu sagen, aber zuerst kam nur ein Krächzen heraus. Er räusperte sich und machte einen zweiten Anlauf. »Ich hatte ziemlichen Ärger. Haben Sie vielleicht was zu essen, Sir? Oder was zu trinken? Ich bin nämlich furchtbar hungrig und durstig.«

Ohne den Blick von Lukes verstümmeltem Ohr abzuwenden, griff der Mann in die Hosentasche und zog eine halbe Rolle Pfefferminzbonbons heraus. Luke grabschte danach, riss das Papier herunter und stopfte sich vier davon in den Mund. Er hätte gedacht, dass sein ganzer Speichel von seinem durstigen Körper aufgesogen worden war, aber wie aus unsichtbaren Düsen schoss ihm welcher in den Mund, und der Zucker traf seinen Kopf wie eine Bombe. Für einen Augenblick flammten die farbigen Blitze auf und rasten über das Gesicht des Mannes. Der sah sich um, als hätte er jemand hinter sich wahrgenommen, dann wandte er sich wieder Luke zu.

»Wann hast du denn das letzte Mal was gegessen?«

»Keine Ahnung«, sagte Luke. »Kann mich nicht mehr genau dran erinnern.«

»Und wie lange bist du schon in dem Zug hier?«

»Ungefähr einen Tag.« Das musste stimmen, auch wenn es ihm wesentlich länger vorkam.

»Dann kommst du ganz aus dem Norden, stimmt’s?«

»Ja.« Maine lag in etwa so weit nördlich, wie es ging, dachte Luke.

Mattie deutete auf Lukes Ohr. »Wer hat das getan? War das dein Vater? Oder dein Stiefvater?«

Luke starrte ihn erschrocken an. »Wie… wie kommen Sie denn auf die Idee?« Doch selbst in seinem momentanen Zustand war die Antwort offensichtlich. »Ach so, da sucht jemand nach mir. In der letzten Stadt, wo der Zug gehalten hat, war das auch so. Wie viele sind es? Was haben sie gesagt? Dass ich von zu Hause weggelaufen bin?«

»Genau. Es ist dein Onkel. Der hat zwei Freunde mitgebracht, und einer von denen ist ein Cop aus Wrightsville Beach. Du kommst aus Massachusetts, sagen sie, und du wärst ausgerissen. Wieso, haben sie nicht gesagt, aber wenn jemand dir das da angetan hat, kann ich es mir denken.«

Dass einer der Männer, die ihm auflauerten, ein Polizist war, jagte Luke einen gewaltigen Schrecken ein. »Ich bin in Maine eingestiegen, nicht in Massachusetts, und mein Dad ist tot. Meine Mama auch. Alles, was die sagen, ist gelogen.«

Darüber dachte der Mann eine Weile nach. »Wer hat dann dein Ohr so verstümmelt, Kleiner? Irgendein Arschloch in einem Pflegeheim?«

Das war nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Ja, Luke war in einer Art Pflegeheim gewesen, und ja, das wurde von Arschlöchern geführt. »Das ist ziemlich kompliziert. Aber… Sir… wenn diese Männer mich sehen, nehmen sie mich mit. Vielleicht könnten sie das nicht, wenn nicht ein Cop dabei wäre. Sie werden mich dahin zurückbringen, wo das hier passiert ist.« Er zeigte auf sein Ohr. »Bitte verraten Sie mich nicht. Bitte lassen Sie mich einfach in dem Zug hier bleiben.«

Mattie kratzte sich am Kopf. »Tja, ich weiß nicht recht. Du bist ein Kind, und dir geht’s ziemlich übel.«

»Mir wird’s noch wesentlich übler gehen, wenn die Männer mich mitnehmen.«

Glaub das, dachte er mit aller Kraft. Glaub das, glaub das!

»Tja, ich weiß nicht recht«, wiederholte Mattie. »Obwohl die drei mir nicht ganz geheuer vorgekommen sind, das muss ich ehrlich sagen. Die waren irgendwie nervös, sogar der Cop. Außerdem bin ich selbst dreimal von zu Hause ausgerissen, bevor ich es endlich geschafft hab. Beim ersten Mal war ich ungefähr so alt wie du.«

Luke sagte nichts. Immerhin dachte Mattie jetzt in die richtige Richtung.

»Wo willst du denn hin? Weißt du das überhaupt?«

»Irgendwohin, wo ich was zu essen und zu trinken kriege und wo ich nachdenken kann«, sagte Luke. »Nachdenken muss ich, weil wahrscheinlich niemand die Geschichte glauben wird, die ich zu erzählen hab. Vor allem nicht, wenn ein Kind sie erzählt.«

»Mattie!«, rief jemand. »Komm endlich raus da, Mann! Sonst kriegst du ’ne Freifahrt nach South Carolina!«

»Hat man dich etwa gekidnappt, Kleiner?«

»Ja«, sagte Luke und begann zu weinen. »Und die Männer… der eine, der sagt, er ist mein Onkel, und der Cop…«

»MATTIE! Wisch dir den Arsch ab, und KOMM!«

»Was ich erzählt hab, ist die Wahrheit«, sagte Luke. »Wenn Sie mir helfen wollen, lassen Sie mich weiterfahren.«

»Tja, Scheiße.« Mattie spuckte an die Wand des Güterwagens. »Kommt mir falsch vor, aber dein Ohr da sagt mir, dass es vielleicht richtig ist. Diese Männer… bist du dir sicher, dass es schlimme Kerle sind?«

»Die schlimmsten«, sagte Luke. In Wirklichkeit hatte er vor den Schlimmsten noch ein bisschen Vorsprung, aber ob es dabei bleiben würde, hing davon ab, wozu der Mann da sich entschloss.

»Weißt du überhaupt, wo du jetzt bist?«

Luke schüttelte den Kopf.

»Wir sind hier in Wilmington. Jetzt hält der Zug noch in Georgia und dann in Tampa, bevor er in Miami ankommt. Wenn man dich sucht, wird man das überall da tun. Aber der nächste Ort, wo der Zug hält, ist bloß ein winziger Fleck auf der Landkarte. Da könntest du…«

»Mattie, wo zum Teufel steckst du denn?« Jetzt wesentlich näher. »Hör auf, hier rumzugammeln. Wir müssen los!«

Mattie warf Luke einen weiteren zweifelnden Blick zu.

»Bitte«, sagte Luke. »Sie haben mich in einen Wassertank getaucht. Bis ich fast ertrunken bin. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber es stimmt.«

Schritte knirschten auf dem Kies. Sie kamen näher. Mattie sprang aus dem Güterwagen und schob die Tür drei Viertel weit zu. Luke kroch in sein Versteck hinter den Gartenmaschinen zurück.

»Hör mal, hast du nicht gesagt, du willst ein Ei legen? Was hast du denn da drin gemacht?«

Luke wartete darauf, dass Mattie sagte: In dem Wagen da hat sich ein Junge versteckt. Damit er nicht mit seinem Onkel mitfahren muss, wollte er mir ’nen fetten Bären aufbinden, dass man ihn oben in Maine gekidnappt und in einen Wassertank gesteckt hat.

»Wollte nach erfolgreicher Geschäftsabwicklung nur noch kurz einen Blick auf die Rasenmäher von Kubota da drin werfen«, sagte Mattie. »Meiner wird nämlich bald den Geist aufgeben.«

»Na, dann komm jetzt, der Zug muss weiter. Sag mal, hast du vielleicht ’nen Jungen durch die Gegend rennen sehen? Du weißt schon, den Bengel, der irgendwo im Norden in ’nen Wagen gesprungen ist und jetzt vielleicht gedacht hat, er könnt sich mal in Wilmington umsehen?«

Eine Pause entstand. Dann sagte Mattie: »Nein.«

Luke hatte vorgebeugt dagesessen. Als er die Antwort hörte, legte er den Hinterkopf an die Wand und schloss die Augen.

Etwa zehn Minuten später lief ein scharfer Ruck durch die Wagen von Zug Nummer 9956. Der Verschiebebahnhof glitt vorüber, erst langsam, dann allmählich schneller. Der Schatten eines Signals fiel durch die Tür des Wagens, dann tauchte ein weiterer Schatten auf. Der eines Mannes. Eine fettfleckige Papiertüte flog herein und landete auf dem Boden.

Luke sah Mattie nicht, er hörte ihn nur: »Viel Glück, kleiner Hobo!« Dann war der Schatten verschwunden.

Er kroch so schnell aus seinem Versteck, dass er mit seinem unverletzten Ohr an einen Rasentraktor knallte. Das merkte er kaum. In der Tüte da steckte der Himmel. Er konnte ihn riechen.

Der Himmel entpuppte sich als ein Cheeseburger, eine Apfeltasche von Hostess und eine Flasche Quellwasser Marke Carolina Sweetheart. Luke musste seine ganze Willenskraft aufwenden, um nicht den gesamten halben Liter Wasser in einem Zug auszutrinken. Er ließ ein Viertel davon drin, stellte die Flasche ab, griff jedoch gleich wieder hektisch danach und schraubte die Kappe darauf. Wenn der Zug plötzlich schlingerte und die Flasche umfiel, wäre er verrückt geworden. Den Cheeseburger verschlang er mit fünf gierigen Bissen und spülte ihn mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Dann leckte er sich das Fett von der Handfläche und kroch mit dem Wasser und der Apfeltasche in sein Versteck zurück. Zum ersten Mal, seit er auf der S. S. Pokey den Fluss befahren und zu den Sternen hinaufgeblickt hatte, hatte er das Gefühl, dass sein Leben eventuell lebenswert war. Und obwohl er nicht richtig an Gott glaubte, da er fand, dass die Beweise ein klein wenig stärker gegen als für seine Existenz sprachen, betete er, allerdings nicht für sich. Er bat diese äußerst hypothetische höhere Macht, den Mann zu segnen, der ihn als Hobo bezeichnet und eine braune Papiertüte in den Güterwagen geworfen hatte.