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Da sein Magen nun voll war, wäre er am liebsten wieder eingedöst, zwang sich jedoch, wach zu bleiben.
Jetzt hält der Zug noch in Georgia und dann in Tampa, bevor er in Miami ankommt, hatte Mattie gesagt. Wenn man dich sucht, wird man das überall da tun. Aber der nächste Ort, wo der Zug hält, ist bloß ein winziger Fleck auf der Landkarte.
Selbst in jener kleinen Stadt würde wahrscheinlich jemand nach ihm Ausschau halten, aber Luke hatte nicht die Absicht, nach Tampa oder Miami zu fahren. Sich in der Menge zu verlieren hatte gewisse Vorteile, doch in Großstädten gab es zu viele Cops, und inzwischen hatten die wahrscheinlich alle ein Foto von dem Jungen, der im Verdacht stand, seine Eltern ermordet zu haben. Außerdem war es logisch, dass er nicht ewig davonlaufen konnte. Dass Mattie ihn nicht verpfiffen hatte, war ein fantastischer Glücksfall; auf einen weiteren zu zählen wäre idiotisch.
Immerhin glaubte Luke, einen Trumpf in der Hand zu haben. Das Schälmesser, das Maureen ihm unter die Matratze gesteckt hatte, war irgendwo unterwegs verloren gegangen, aber der USB-Stick steckte noch in seiner Tasche. Er hatte keine Ahnung, was sich darauf befand. Unter Umständen handelte es sich bloß um eine langatmige, schuldbewusste Beichte, die nach Geschwafel klang, zum Beispiel irgendwas über das Baby, das Maureen weggegeben hatte. Es konnten jedoch auch Beweise sein. Dokumente.
Endlich wurde der Zug wieder langsamer. Luke ging zur Tür, hielt sich daran fest, um nicht umzufallen, und beugte sich hinaus. Er sah eine Menge Bäume und eine zweispurige Straße, dann die Rückseite von Privathäusern und größeren Gebäuden. Der Zug fuhr an einem Signal vorüber, das auf Gelb stand. Vielleicht kam jetzt das Kaff, von dem Mattie gesprochen hatte; vielleicht musste der Zug aber auch nur warten, bis weiter vorn das Gleis frei war. Letzteres war eventuell besser für Luke, denn wenn an der nächsten Station ein besorgter Onkel auf ihn wartete, dann direkt am Güterbahnhof. Ein Stück weit entfernt standen Lagerhäuser mit glitzernden Metalldächern. Dahinter verlief die zweispurige Straße, und hinter der Straße wuchsen wieder Bäume.
Deine Aufgabe ist es jetzt, aus dem Zug zu springen und zu den Bäumen da rüberzurennen, so schnell du kannst, sagte er sich. Und denk dran, schon beim Sprung zu rennen, damit du nicht mit der Schnauze im Schotter landest.
Ohne die Tür loszulassen, wiegte er sich vor und zurück, die Lippen zu einer dünnen, konzentrierten Linie zusammengepresst. Das war tatsächlich der Halt, von dem Mattie ihm erzählt hatte, denn jetzt sah er weiter vorn ein Stationsgebäude. Auf die ausgeblichenen grünen Dachschindeln hatte jemand DUPRAY SOUTHERN & WESTERN gemalt.
Runter mit dir, dachte Luke. Schließlich willst du auf keinen Fall irgendeinem Onkel begegnen.
»Eins…«
Er wiegte sich vorwärts.
»Zwei…«
Er wiegte sich zurück.
»Drei!«
Luke sprang. Er begann zwar noch in der Luft zu rennen, kam jedoch mit der momentanen Zuggeschwindigkeit auf dem Schotter neben den Gleisen auf, was etwas schneller war, als seine Beine leisten konnten. Sein Oberkörper kippte nach vorn, und da er zum Ausgleich die Arme nach hinten ausstreckte, sah er wahrscheinlich aus wie ein Eisschnellläufer vor der Ziellinie.
Als er schon glaubte, sich fangen zu können, bevor er stürzte, rief jemand: »He, pass auf!«
Er riss den Kopf hoch und sah zwischen den Lagerhäusern und dem Bahnhof einen Mann auf einem Gabelstapler sitzen. Ein weiterer Mann erhob sich im Schatten des Stationsgebäudes von einem Schaukelstuhl, die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, noch in der Hand. Er rief: »Achtung, da kommt ein Pfosten!«
Gemeint war der zweite Signalpfosten, dessen Lampe rot leuchtete, aber zum Ausweichen sah Luke ihn zu spät. Instinktiv drehte er den Kopf zur Seite und versuchte, den Arm zu heben, aber bevor ihm das ganz gelungen war, prallte er mit vollem Tempo gegen den Stahl. Die rechte Gesichtshälfte mit dem verwundeten Ohr erwischte es am schlimmsten. Er zuckte nach hinten, kam auf dem Schotter auf und rollte von den Schienen weg. Das Bewusstsein als solches verlor er zwar nicht, aber dessen Unmittelbarkeit. Der Himmel schwang von ihm weg, kehrte zurück und entfernte sich wieder. Etwas Warmes lief ihm an der Wange entlang, und er wusste, dass sein Ohr wieder blutete, sein armes, misshandeltes Ohr. Eine innere Stimme ermunterte ihn schreiend, aufzustehen und schleunigst in den Wald zu rennen, aber Hören und Handeln waren zwei Paar Schuhe. Als er versuchte, auf die Beine zu kommen, scheiterte er.
Jetzt bin ich geliefert, dachte er. Scheiße. Was für ein verfluchter Mist.
Dann stand der Mann von dem Gabelstapler über ihm. Aus Lukes Perspektive am Boden sah er etwa fünf Meter groß aus. In den Gläsern seiner Brille funkelte die Sonne, weshalb man seine Augen nicht sehen konnte. »Mensch, Kleiner, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«
»Hab versucht zu fliehen.« Luke war sich nicht sicher, ob er wirklich etwas sagte, glaubte jedoch, das zu tun. »Ich darf mich von denen nicht erwischen lassen, bitte lassen Sie das nicht zu!«
Der Mann bückte sich zu ihm hinunter. »Brauchst nicht zu reden, ich kann dich sowieso nicht verstehen. Du bist brutal an den Pfosten da geknallt, und du blutest wie ein Schwein. Beweg mal die Beine.«
Luke gehorchte.
»Und jetzt beweg die Arme.«
Luke hob sie an.
Der Mann vom Schaukelstuhl gesellte sich zu dem vom Gabelstapler. Luke versuchte, mit seinen neu erworbenen telepathischen Fähigkeiten herauszufinden, was einer oder beide dachten beziehungsweise wussten. Er hörte nichts; was das Gedankenlesen anging, herrschte momentan Ebbe. Vielleicht hatte der Schlag, den er bekommen hatte, ihm seine ganze TP aus dem Kopf getrieben.
»Dem ist nichts Schlimmes passiert, oder, Tim?«
»Glaub nicht. Hoffentlich. Im Erste-Hilfe-Kurs lernt man zwar, man soll jemand mit ’ner Kopfverletzung nicht umlagern, aber das Risiko gehe ich ein.«
»Wer von Ihnen ist angeblich mein Onkel?« fragte Luke. »Oder sind Sie das beide?«
Der Mann vom Schaukelstuhl runzelte die Stirn. »Kapieren Sie, was er sagt?«
»Nein. Ich leg ihn ins Hinterzimmer von Mr. Jackson.«
»Dann nehm ich seine Beine.«
Allmählich kam Luke wieder vollständig zu sich. In der Beziehung war sein Ohr tatsächlich hilfreich, denn es fühlte sich an, als wollte es sich in seinen Kopf bohren. Und sich vielleicht darin verstecken.
»Nee, geht schon«, sagte der Mann vom Gabelstapler. »Er ist ja nicht schwer. Rufen Sie lieber Doc Roper an, und sagen Sie ihm, er muss einen Hausbesuch machen.«
»Genauer gesagt, einen Lagerhausbesuch«, sagte der andere und lachte, wobei gelbliche Zahnstummel zum Vorschein kamen.
»Sehr lustig. Nun machen Sie schon. Nehmen Sie das Bahnhofstelefon.«