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»Jawohl, Sir!« Der Schaukelstuhlmann salutierte ironisch vor dem Gabelstaplermann und machte sich auf den Weg. Der Gabelstaplermann hob Luke auf.

»Setzen Sie mich ab«, sagte Luke. »Ich kann selbst gehen.«

»Meinst du? Lass mich sehen.«

Luke schwankte kurz, dann fand er sein Gleichgewicht.

»Wie heißt du, Junge?«

Luke überlegte. Er war sich nicht sicher, ob er seinen Namen nennen sollte, solange er nicht wusste, ob es sich bei dem Mann um einen »Onkel« handelte. Er sah ganz nett aus… aber das hatte sogar Zeke vom Institut getan, wenn er ausnahmsweise guter Laune gewesen war.

»Wie heißen denn Sie?«, konterte er.

»Tim Jamieson. Komm jetzt, damit du wenigstens nicht mehr in der prallen Sonne bist.«

25

Norbert Hollister, Besitzer eines heruntergekommenen Motels, das nur dank seiner monatlichen Einkünfte als Zuträger für das Institut noch in Betrieb war, nahm tatsächlich das Telefon im Stationsgebäude, um Doc Roper anzurufen, aber zuerst wählte er auf seinem Handy eine Nummer, die man ihm in den frühen Morgenstunden mitgeteilt hatte. Da war er stinksauer gewesen, dass man ihn geweckt hatte. Jetzt hingegen war er begeistert.

»Dieser Junge«, sagte er. »Der ist hier.«

»Einen Moment«, sagte Andy Fellowes. »Ich stelle Sie durch.«

Nach kurzer Stille fragte jemand anderes: »Sind Sie Hollister? In DuPray in South Carolina?«

»Bin ich. Der Junge, den Sie suchen, ist gerade aus ’nem Güterzug gesprungen. Sein Ohr ist ganz verstümmelt. Ist immer noch ’ne Belohnung für ihn ausgesetzt?«

»Ja. Und wenn Sie dafür sorgen, dass er in der Stadt bleibt, wird die sogar noch größer sein.«

Norbert lachte. »Ach, ich glaube, der wird bleiben. Er ist gegen einen Signalpfosten geknallt, der ihn fast schachmatt gesetzt hat.«

»Verlieren Sie ihn nicht aus den Augen«, sagte Stackhouse. »Ich will, dass Sie mich alle Stunde anrufen. Kapiert?«

»So als Statusmeldung.«

»Ja, so ähnlich. Um den Rest kümmern wir uns.«

DIE HÖLLE HÄLT EINZUG

1

Tim führte den blutigen Jungen, der offenkundig noch benommen war, aber allein gehen konnte, durch das Büro von Craig Jackson. Der Besitzer der Lagerhäuser wohnte in der nahen Stadt Dunning, war jedoch seit fünf Jahren geschieden, weshalb das geräumige, klimatisierte Zimmer hinter dem Büro ihm als zusätzliche Unterkunft diente. Momentan war Jackson nicht vor Ort, was Tim nicht überraschte. An Tagen, an denen der 9956 hier hielt, anstatt durchzufahren, neigte Craig dazu, sich rar zu machen.

Hinter der kleinen Küchenzeile, die mit einer Mikrowelle, einer Kochplatte und einem winzigen Spülbecken ausgestattet war, kam der Wohnbereich, der aus einem Sessel vor einem HD-Fernseher bestand. Dahinter blickten alte Doppelseiten aus Playboy und Penthouse auf ein ordentlich gemachtes Feldbett hinab. Tim hatte vor, den Jungen bis zur Ankunft von Doc Roper darauf zu legen, aber der schüttelte den Kopf.

»Sessel.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja.«

Der Junge setzte sich hin, wobei das Polster einen kurzen Seufzer von sich gab. Tim ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder. »Sagst du mir jetzt endlich deinen Namen?«

Der Junge betrachtete ihn skeptisch. Er blutete nicht mehr, doch seine Wange war mit getrocknetem Blut bedeckt, und sein rechtes Ohr sah fürchterlich aus. »Haben Sie auf mich gewartet?«

»Nein, auf den Zug. Ich arbeite morgens hier. Wenn der 9956 hält, bin ich länger da. Also, wie heißt du?«

»Wer war der andere Typ?«

»Keine weiteren Fragen, bis du mir deinen Namen nennst.«

Wieder überlegte der Junge, dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin Nick. Nick Wilholm.«

»Okay, Nick.« Tim machte das Peace-Zeichen. »Wie viele Finger siehst du?«

»Zwei.«

»Und jetzt?«

»Drei. Der andere Typ, hat der gesagt, er wär mein Onkel?«

Tim runzelte die Stirn. »Das war Norbert Hollister. Dem gehört das Motel hier. Wenn er der Onkel von irgendjemand wäre, dann wüsste ich das.« Tim hob den Zeigefinger. »Folg dem mit dem Blick. Ich will sehen, wie deine Augen sich bewegen.«

Die Augen des Jungen folgten dem Finger von links nach rechts, dann hoch und runter.

»Offenbar hat es dich nicht besonders schlimm erwischt«, sagte Tim. »Jedenfalls können wir das hoffen. Vor wem läufst du eigentlich davon, Nick?«

Mit erschrockenem Blick versuchte der Junge aufzustehen. »Wer hat Ihnen das erzählt?«

Tim drückte ihn sanft wieder in den Sessel. »Niemand. Aber immer, wenn ich einen Jungen mit dreckigen, zerrissenen Klamotten und einem verstümmelten Ohr von einem Zug springen sehe, drängt sich mir der merkwürdige Verdacht auf, dass ich es mit einem Ausreißer zu tun habe. Also, vor wem…«

»Was war denn das für ein Geschrei vorhin? Ich hab gehört… Gott im Himmel, was ist nur mit dem Jungen da passiert?«

Als Tim sich umdrehte, sah er Orphan Annie Ledoux dastehen. Offenbar hatte sie in ihrem Zelt hinter dem Bahnhof gelegen, wo sie oft mitten am Tag ein Nickerchen machte. Obwohl das Thermometer vor dem Gebäude schon um zehn Uhr morgens knapp dreißig Grad angezeigt hatte, trug Annie das, was Tim insgeheim als ihr mexikanisches Kostüm bezeichnete: Poncho, Sombrero, billige Armbänder und aus dem Abfall gerettete Cowboystiefel, die an den Nähten aufgeplatzt waren.

»Das ist Nick Wilholm«, sagte Tim. »Er ist von Gott weiß woher gekommen, um unser schönes Dorf zu besuchen. Ist vom Sechsundfünfziger gesprungen und mit vollem Karacho gegen einen Signalpfosten geknallt. Nick, das ist Annie Ledoux.«

»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Luke.

»Danke, mein Junge, ganz meinerseits. War das etwa der Signalpfosten, der ihm das halbe Ohr abgerissen hat, Tim?«

»Das glaube ich kaum«, sagte Tim. »Ich hatte gerade gehofft, mehr darüber zu erfahren.«

»Haben Sie darauf gewartet, dass der Zug ankommt?«, fragte der Junge, an Annie gewandt. Offenbar war er darauf fixiert. Vielleicht, weil er sich brutal den Schädel angehauen hatte, vielleicht aus einem anderen Grund.

»Ich warte auf nichts als auf die Wiederkehr unseres Herrn Jesus Christus«, sagte Annie. Sie blickte sich um. »Da hat Mr. Jackson aber pikante Fotos an der Wand. Könnt nich behaupten, dass mich das überrascht.« Ihr ländlicher Akzent war unüberhörbar.

In diesem Moment kam ein Mann mit olivfarbener Haut herein. Er trug eine Latzhose über einem weißen Hemd mit einer dunklen Krawatte, auf seinem Kopf saß eine gestreifte Eisenbahnermütze. »Hallo, Hector«, sagte Tim.

»Selber hallo«, sagte Hector. Ohne großes Interesse betrachtete er den blutigen Jungen, der auf Craig Jacksons Sessel saß, dann wandte er die Aufmerksamkeit wieder Tim zu. »Mein Kollege sagt, dass ich zwei Generatoren für euch hab, ein paar Rasentraktoren und dergleichen, dazu etwa eine Tonne Dosenfutter und eine weitere Tonne Frischwaren. Ich bin jetzt schon spät dran, Timmy, mein Alter, und wenn du nicht schleunigst auslädst, kannst du die Lasterflotte, die unsere Stadt nicht hat, nach Brunswick schicken, um das Zeug dort abzuholen.«

Tim erhob sich. »Annie, können Sie dem jungen Mann Gesellschaft leisten, bis der Doktor kommt? Ich muss mich eine Weile auf den Gabelstapler setzen.«

»Das schaff ich schon. Wenn er ’nen Krampfanfall kriegt, stecke ich ihm was in den Mund.«

»Ich kriege keinen Krampfanfall«, sagte der Junge.

»Das behaupten alle«, erwiderte Annie etwas kryptisch.

»Junge«, sagte Hector. »Hast du dich etwa in meinem Zug versteckt?«

»Ja, Sir. Bitte entschuldigen Sie.«