»Tja, da du jetzt nicht mehr drin bist, ist mir das schnuppe. Wahrscheinlich werden die Cops sich mit dir beschäftigen. Tim, mir ist schon klar, dass ihr hier ein Problem habt, aber die Waren warten nicht, also mach dich an die Arbeit. Wo ist eigentlich dein verdammtes Team? Ich hab bloß einen einzigen Typen gesehen, und der hängt im Büro am Telefon!«
»Das ist Hollister vom Motel, und bis der ’nen Finger krumm macht, kannst du lange warten. Außer er will sich in der Nase bohren.«
»Garstig«, sagte Orphan Annie, womit sie allerdings eventuell die Fotos an der Wand meinte, die sie immer noch betrachtete.
»Eigentlich sollten die Beeman-Brüder da sein, aber die beiden Nichtsnutze sind offenbar spät dran. Genau wie du.«
»Ach du Schande.« Hector nahm seine Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das dichte, schwarze Haar. »Ich hasse solche Fahrten. In Wilmington hat das Entladen sich auch verzögert. Auf einem von den Autotransportern ist ein verdammter Lexus stecken geblieben. Na gut, schauen wir mal, dass wir zurande kommen.«
Tim folgte Hector zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Du heißt gar nicht Nick, stimmt’s?«
Der Junge dachte nach, dann sagte er: »Vorläufig schon.«
»Passen Sie auf, dass er nicht abhaut«, sagte Tim zu Annie. »Rufen Sie mich, falls er’s probieren sollte.« Er sah den blutigen Jungen an, der sehr klein und mitgenommen wirkte. »Wir reden darüber, wenn ich wiederkomme. Ist das für dich okay?«
Wieder überlegte der Junge, dann nickte er müde. »Muss es wohl.«
2
Als die beiden Männer fort waren, fand Orphan Annie in einem Korb unter dem Spülbecken zwei saubere Putztücher. Nachdem sie die in kaltes Wasser getaucht hatte, wrang sie eines fest und das andere weniger fest aus. Sie reichte Luke das erstere. »Drück dir das ans Ohr.«
Das tat Luke. Es brannte. Mit dem anderen Tuch tupfte sie ihm das Blut vom Gesicht, so sanft, dass er an seine Mutter denken musste. Annie hielt inne und fragte ihn – mit derselben Sanftheit–, weshalb er weine.
»Ich vermisse meine Mama.«
»Tja, also, die vermisst dich bestimmt auch.«
»Nur, falls das Bewusstsein nach dem Tod irgendwie weiterbesteht. Das möchte ich zwar gern glauben, aber die empirischen Belege sprechen dagegen.«
»Ob das Bewusstsein weiterbesteht? Aber natürlich tut es das.« Annie ging zur Spüle und machte sich daran, das Blut aus dem von ihr verwendeten Tuch zu spülen. »Manche sagen zwar, dass verstorbene Seelen kein Interesse an der irdischen Sphäre haben, genauso wie uns egal ist, was die Ameisen in ’nem Ameisenhaufen treiben, aber zu denen gehör ich nich. Ich glaub, dass sie sich sehr wohl um uns kümmern. Tut mir leid, dass sie verstorben ist, Junge.«
»Meinen Sie, dass die Liebe von denen auch weiterbesteht?« Die Vorstellung war töricht, das wusste er, aber sie war auf gute Weise töricht.
»Klar. Die Liebe stirbt doch nich mit dem irdischen Körper, Junge. Das ist ’ne völlig lächerliche Idee. Wie lange ist es her, dass deine Mama davongegangen is?«
»Vielleicht einen Monat, vielleicht auch sechs Wochen. Ich hab mehr oder weniger den Überblick darüber verloren, wie viel Zeit vergangen ist. Meine Eltern wurden ermordet, und mich hat man gekidnappt. Ich weiß, dass das schwer zu glauben ist…«
Annie machte sich daran, das restliche Blut abzutupfen. »Nich so schwer, wenn man Bescheid weiß.« Sie tippte sich unter dem Rand ihres Sombreros an die Stirn. »Sind sie mit schwarzen Autos gekommen?«
»Keine Ahnung«, sagte Luke. »Aber wundern würde es mich nicht.«
»Und sie ham Experimente an dir gemacht, stimmt’s?«
Luke klappte die Kinnlade herunter. »Woher wissen Sie das?«
»Von George Allman«, sagte sie. »Der is von Mitternacht bis vier Uhr morgens auf WMDK. In seiner Sendung geht’s um Walk-ins und Ufos und paranormale Kräfte.«
»Um paranormale Kräfte? Echt?«
»Ja, und um die Verschwörung. Weißt du von der Verschwörung, Junge?«
»Mehr oder weniger«, sagte Luke.
»Die Sendung von George Allman heißt: Die Outsider. Man kann anrufen, aber hauptsächlich redet bloß er. Er sagt nich, dass es Außerirdische sind oder die Regierung oder dass beide zusammenarbeiten; er ist vorsichtig, weil er nich verschwinden oder erschossen werden will wie Jack und Bobby Kennedy, aber er redet die ganze Zeit von den schwarzen Autos und den Experimenten. Sachen, bei denen’s dir kalt über den Rücken läuft. Wusstest du, dass Son of Sam ein Walk-in war? Nein? Tja, er war einer. Dann ist der Teufel, der in ihm drin war, wieder aus ihm rausgegangen, dass bloß noch ’ne Hülle übrig war. Heb mal den Kopf an, Junge, du hast am ganzen Hals Blut, und wenn das trocknet, bevor ich’s abwische, muss ich reiben.«
3
Die Beeman-Brüder, zwei große, massige Teenager aus dem Trailer-Park im Süden der Stadt, tauchten um Viertel nach zwölf auf, also um eine Zeit, wo Tim normalerweise schon längst fertig war. Inzwischen stand das meiste Zeug für Maschinenhandlung Fromie auf der rissigen Betonfläche am Bahnhof. Wenn es nach Tim gegangen wäre, hätte er die beiden sofort gefeuert, aber sie waren auf eine komplizierte Weise, die man nur als Südstaatler begriff, mit Mr. Jackson verwandt, weshalb die Möglichkeit nicht bestand. Abgesehen davon brauchte er die beiden.
Um halb eins fuhr Del Beeman den großen Pick-up mit den Lattenwänden rückwärts an die Tür des Güterwagens heran, und dann fingen sie an, die Kisten mit Salat, Tomaten, Gurken und Sommerkürbissen umzuladen. Hector und sein Zugbegleiter waren zwar nicht an frischem Gemüse interessiert, aber daran, endlich aus South Carolina wegzukommen, weshalb sie mithalfen. Norbert Hollister stand im Schatten des Bahnhofsvordachs und beobachtete alles aufmerksam, tat jedoch nichts anderes. Dass er immer noch herumhing, fand Tim etwas merkwürdig – bisher hatte Norbert keinerlei Interesse an der Ankunft und Abfahrt von Zügen gezeigt–, war jedoch zu beschäftigt, darüber nachzudenken.
Um zehn vor eins bog ein alter Ford-Kombi auf den kleinen Bahnhofsparkplatz ein, gerade als Tim die letzten Kisten mit Gemüse auf den Pick-up lud, der sie zum örtlichen Supermarkt bringen sollte… vorausgesetzt, dass Phil Beeman es bis dorthin schaffte. Es war zwar weniger als eine Meile, aber heute redete Phil ziemlich langsam, und seine Augen waren so rot wie die von einem Tierchen, das versuchte, sich vor einem Buschbrand zu retten. Man musste nicht Sherlock Holmes heißen, um daraus zu schließen, dass er Pot geraucht hatte. Sein Bruder ebenfalls.
Doc Roper stieg aus seinem Kombi. Tim hob grüßend die Hand und deutete auf das Lagerhaus, in dem Mr. Jackson sein Büro samt Apartment hatte. Roper erwiderte den Gruß und machte sich auf den Weg in die angezeigte Richtung. Er war vom alten Schlag, beinahe eine Karikatur, einer von jenen Ärzten, die sich noch in zahllosen bitterarmen ländlichen Gebieten hielten, wo das nächste Krankenhaus vierzig bis fünfzig Meilen weit entfernt war, Obamacare für eine linksradikale Blasphemie gehalten wurde und ein Ausflug zu Walmart als Ereignis galt. Roper war übergewichtig, Mitte sechzig und ein eingefleischter Baptist, der in seiner schwarzen Tasche, die über drei Generationen von Vater zu Sohn weitergereicht worden war, nicht nur ein Stethoskop, sondern auch eine Bibel stecken hatte.
»Was ist das eigentlich für ’ne Geschichte mit diesem Jungen?«, erkundigte sich der Güterzugbegleiter, während er sich mit seinem Halstuch die Stirn abwischte.
»Das weiß ich nicht«, sagte Tim. »Aber ich hab vor, es rauszukriegen. Jetzt aber los, Leute, ihr könnt starten. Falls ihr mir nicht eine von den Lexus-Limousinen dalassen wollt. Bin gern bereit, sie selbst runterzufahren.«
»Chupa mi polla«, sagte Hector. Dann schüttelte er Tim die Hand und marschierte zu seiner Lokomotive, um auf der Fahrt von DuPray nach Brunswick hoffentlich ein bisschen Zeit gutzumachen.