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Ob die Hexen wohl von der Existenz von Raketensilos wussten? Er, Klawdi, war in der sicheren Überzeugung aufgewachsen, diese wären das letzte Bollwerk der Zivilisation, das standhielt, selbst wenn alles andere im Weltenmeer versank. Oder bei einem Meteoritenaufprall ausbrannte.

Klawdi hatte das Kästchen genau betrachtet. In einer Ecke des Displays hatte ein Quadrat pulsiert, was bedeutete, dass der Kontakt zur Zentrale hergestellt und diese bereit war, Befehle zu empfangen. Und zwar jeden Befehl, wie der Herzog erklärt hatte, denn die Kriegsmaschinerie wiege per definitionem nicht ab.

Klawdi war erschaudert. Es würde ihm nicht behagen, dieses Ding mit sich herumzuschleppen, doch das Gewicht des Kästchens in seiner Innentasche würde, wenn schon nicht seine Gewissheit, so doch wenigstens seine Entschlossenheit festigen. Wie ein kleiner Junge fühlte er sich, der irgendeinen Unsinn ausheckt und sich denkt: Wenn mich jemand erwischt, schieß ich mich einfach tot — dann kann mich keiner mehr bestrafen.

Seufzend hatte er den silbernen Dolch von der Wand genommen und ihn neben das dunkle Kästchen auf den Tisch gelegt. Mit beiden Händen auf den Tisch gestützt, war er lange sitzen geblieben, um vor sich hin zu starren.

Das Gesicht des Herzogs war ihm eingefallen, das dieser gemacht hatte, als er ihm den Atomkoffer übergeben hatte. Achselzuckend hatte sich Klawdi daraufhin das runde Gesicht Fomas aus Altyza vorgestellt, genau in dem Augenblick, da der Kurator die Nachricht von der Verhaftung und Bestrafung einer »mutierten, destruktiven Hexe, der sogenannten Mutterhexe«, erhalten würde.

Wie konntest du nur?!, hatte Klawdi dem Schicksal tadelnd vorgehalten.

Wenn dieser Albtraum bloß endete! Wenn sich das Meer in Odnyza zurückziehen, die Weinstöcke in Egre wieder erblühen würden. Das Opernhaus neu aufgebaut würde. Wenn dieser Albtraum doch bloß endete. Wenn er bloß die Augen zu öffnen brauchte — und nichts davon wäre geschehen, der grauenvolle Traum hätte sich verflüchtigt und in Wyshna das Leben wieder Einzug gehalten. Wyshna — und erst da hatte er verstanden, wie sehr er diese Stadt liebte, diese verfluchte und vermüllte Stadt, die so sehr an einen geschändeten Friedhof erinnerte. Das Wichtigste verstand er eben immer zu spät.

Warum hatte er sie nicht erkannt?!

Durch alle Stockwerke hindurch hatte er sie jetzt wittern können. Durch den Beton hindurch. Er hatte sie wittern können, sie, die tief unten im Keller saß. Und ihn hatte gefröstelt.

Sollte wirklich alles so einfach sein?! Sollte da unten, in dem steinernen Verlies, wirklich die taube Mutterhexe sitzen?

Noch immer glaubte er es nicht. Er hatte die Klinge vom Tisch genommen und war langsam in den Keller hinuntergestiegen.

Nun saß er also hier, in einer Ecke der Zelle Nr. 107, mit dem Rücken gegen die kalte Wand gelehnt, und betrachtete diejenige, in der die Mutterhexe und eine junge Frau namens Djunka miteinander verschmolzen.

»Es fällt mir sehr schwer, das alles zu erzählen.«

Ywhas Lippen zitterten, sie nickte bedächtig.

Er bedeckte die Augen mit der Hand, denn das nervöse Licht der Fackel irritierte ihn. Er senkte die Lider und fing langsam, beinahe müde zu erzählen an. »Sie hieß Djunka. Djunka, Dokija. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dir … Und sie ist zweimal gestorben. Das zweite Mal meinetwegen und vor meinen Augen.«

Seine Stimme zitterte nicht, obwohl er sich nicht gerade um eine feste Stimme bemühte. Die Maske des Gleichmuts war seinem Gesicht über lange Jahre so fest angewachsen, dass sie längst nicht mehr von Fäden gehalten werden musste. Er sprach so leidenschaftslos wie ein Automat, und erst gegen Ende der Erzählung zwang ihn ein jäher und stechender Schmerz in der Brust innezuhalten. Nicht für lange Zeit, für eine Minute nur.

Je länger er berichtete, desto größer wurden Ywhas Augen, bis sie irgendwann ihr ganzes Gesicht einzunehmen schienen. In ihren schwarzen Pupillen spiegelte sich die Fackel wider.

»Nun ja, Ywha, ich bin ein komischer romantischer Held. Treu … mein Leben lang bin ich einer einzigen Frau treu geblieben … selbst in den Armen einer neuen Geliebten.« Er lachte. »Mein ganzes Leben lang habe ich mir diese Blindheit vorgeworfen … Da gab es einmal eine lebendige, eine ganz lebensfrohe Frau … ich hätte nur die Hand nach ihr ausstrecken müssen. Aber ich habe sie nicht gesehen. Ich war zu beschäftigt! Mit mir und mit Gott weiß was. Mir war nicht klar, wie sehr ich später … Und jetzt bin ich wieder blind gewesen. Ich habe auf etwas gestarrt, aber nichts gesehen. Verzeih mir. Du hast zu gut von mir gedacht. Dabei bin ich nur ein alter Esel.«

Er zog den Dolch heraus. Eine silberne, geschwungene Klinge, ein unverzüglicher und garantierter Tod, eine hervorragende Alternative für jede Hexe. Ein ruhmreicher Abgang.

Ywha blinzelte. Sie wusste längst, was er beabsichtigte, aber erst jetzt zeigte sich auf dem Grund ihrer Augen die Angst.

»Ich möchte … dich berühren. Deine Hand halten … viele Tage und Nächte … Damit du keine Angst hast. Auf gar keinen Fall möchte ich dich verlieren …«

Die silberne Klinge blieb kalt. Niemals nimmt sie auch nur einen Hauch der Wärme eines Menschen an. Niemals.

»Wenn du doch nur ahntest, wie sehr ich das will, Ywha. Immerzu möchte ich deine Finger halten, sie nie wieder loslassen.«

Er stand einen halben Meter von ihr entfernt. Auf den Knien. Ihrer beider Augen lagen auf einer Höhe. Die Hand mit dem Dolch hielt er hinterm Rücken. Sein Körper wusste ganz genau, wie er den Stich ausführen musste. Sein Körper konnte auf seine Hilfe getrost verzichten, und er durfte jetzt nichts hinauszögern, sondern musste dem Großinquisitor das Kommando übergeben, das Tötungsverbot ignorieren, das ohnehin schon so oft verletzt worden war.

Er streckte die linke, die freie Hand aus.

Der alte Zoo, das Füchslein, das Gitter, die unendlichen Zentimeter, die die Kinderhand von dem verfilzten roten Fell trennten.

Das ist etwas anderes! Das ist etwas ganz anderes!

Er streckte die Hand durch die Stäbe des Käfigs, den sein Wille geschmiedet hatte, berührte die Hand, die taub in dem Holzblock hing, berührte diese willenlose, zarte und bleiche Hand.

Die Hand kam ihm entgegen, streckte sich ihm mit aller Mühe entgegen, ohne auf die Haut des Gelenks zu achten, das von den Fesseln umspannt wurde.

Eine Berührung.

Wasser und weiße Gänse. Eine nackte junge Frau am grünen Ufer. Die Sonne in den roten Haaren. Ein unsichtbarer Stromschlag, ohnmächtige Schlaffheit, Hitze und Zittern.

Alle Umarmungen der Welt. Küsse und schlaflose Nächte, dieser ganze Wust zerwühlter Laken.

All das bedeutete nichts.

Eine Fackel, die in den beiden schwarzen Pupillen zitterte.

»Klaw …«

»Ich bin ja hier.«

»Klaw … ich …«

Und dann sah er, wie sich ihr Gesicht schlagartig veränderte. Und wie in die schlaffe Hand überraschend Kraft schoss.

»Ich wollte das nicht! Ich … dich …«

Der Dolch fiel aus seiner Hand, fiel immer tiefer, hing in der Luft, nur wenige Zentimeter über dem Boden. Genau in diesem Moment schaffte er es, sich an ihrem Blick festzuhaken und den Brunnen auszumessen.

Da war kein Brunnen.

Das hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Brunnen. Das war ein schwarzes Loch. Ein Riss im Raum.