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Ywha schüttelte den Kopf und wandte sich rasch dem Ausgang zu.

Den Morgen erlebte sie in Gesellschaft einer Najade des städtischen Springbrunnens. Während sie sich in die graue Jacke — ein Geschenk Nasars! — mummelte, versuchte sie, die Reste der Wärme zu speichern, nicht einen Zug der feuchten Luft durch den Kragen dringen zu lassen und auch nicht zu atmen. Auf dem Kopf der Najade saß eine Taube, deren Krallen ständig abglitten, wieder und wieder abrutschten.

Manchmal glaubte Ywha allerdings, es gebe gar keine Taube. Dass das Tier nur ein Auswuchs ihrer Phantasie sei und jene weiße Skulptur keine Najade, sondern eine an eine Säule gekettete Frau darstelle, zu deren Füßen ein steinernes Reisigbündel liege, aus dem bereits ein steinernes Feuer lodere.

In Ywhas Nacken saß eine Art Nagel, schon seit einer ganzen Weile, und er fühlte sich immer wohler, schlug Wurzeln.

Als ein paar Räder aufquietschten, zuckte Ywha zusammen.

Bereits früh am Morgen lief das Mädchen mit der ausgelassenen Jacke, unter der das an eine Schuluniform erinnernde braune Kleid hervorlugte, durch die menschenleeren Straßen. Der grellfarbene Karren polterte hinter ihr über den Asphalt.

»Heiße Sandwiches«, rief das Mädchen, obwohl der Wagen leer war.

Ywha leckte sich über die Lippen. Der Nagel in ihrem Nacken bohrte sich tiefer.

»Übernachte nicht noch mal auf dem Bahnhof!« Das Mädchen rieb sich die Nasenwurzel, und da begriff Ywha plötzlich, dass die andere nicht erst vierzehn, sondern schon viel älter war. »Die haben dich bereits ins Auge gefasst … diese bösen Menschen.«

Ywha schwieg, ohne die andere aus den Augen zu lassen.

»Böse Menschen machen böse Sachen. Ein Mädchen ohne Zuhause ist eine Ware, die ihnen umsonst zufällt.« Die Sandwich-Verkäuferin verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Geh nicht mehr zum Bahnhof.«

Angst beschlich Ywha. Das Mädchen schwieg und lächelte, während in ihren Augen die Antwort auf die noch unausgesprochene Frage stand: Du weißt, wer ich bin. Denn du weißt, wer du selbst bist. Also verhalte dich entsprechend!

Eine Hexe, eine reife Hexe schaute Ywha aus dem schmächtigen Körper einer Schülerin an. Ein Schauder lief über Ywhas Rücken; um ihre Angst zu überwinden, stellte sie sich ihr Gegenüber bei einer Mathematikstunde vor. An der Tafel, mit der abgegriffenen Kreide in der mageren Hand, biss sie sich konzentriert auf die Lippe …

»Was ist so komisch?«, fragte das Mädchen irritiert.

»Nichts«, antwortete Ywha und blickte schnell woanders hin.

Das Mädchen schob ihren Karren vor und zurück. »Kommst du mit mir mit?«

»Nein.« Ywha erhob sich, und mit einem Mal kam ihr die Tasche unerhört schwer vor. Ihre Verunsicherung ärgerte sie. »Ich ziehe heterosexuelle Beziehungen vor«, fügte sie dann hinzu.

Der Nagel, der sich in ihrem Nacken eingenistet hatte, ruckte und schmerzte noch heftiger. Ywha schulterte die Tasche und ging schnellen Schrittes davon, doch die Worte, die ihr das Mädchen nachrief, erreichten sie auch so und peitschten ihr schmerzhaft über den Rücken: »Bilde dir nicht ein, dass du eine Wahl hast, du Idiotin. Es wird nur schlimmer, wenn man dich unschuldig verbrennt.«

Eine Panikattacke, die ihr weiche Knie beschert und in ihrem Mund einen ekligen Geschmack zurückgelassen hatte, lag bereits hinter ihr; zweimal war Ywha in einer Straßenbahn die gesamte Strecke mitgefahren, bis der Schaffner sie schließlich misstrauisch beäugt hatte.

Es hieß, eine Hexe fürchte die Initiation genauso wie eine Jungfrau die Hochzeitsnacht. Ywha wusste nicht, ob das stimmte; von ihrer Jungfräulichkeit hatte sie sich spielend verabschiedet — es war ihr so vorgekommen, als ob Nasar und sie bloß fummelten. Bei dem Gedanken an eine mögliche Initiation packte sie dagegen heftige Angst; sie sah sich an einem Abgrund stehen, dessen gezackter Rand einen Punkt markierte, von dem es kein Zurück mehr gab. Selbst einen Menschen und einen Hund schien mehr miteinander zu verbinden als einen Menschen und eine Hexe …

In ihren Albträumen schwebte sie in einem langen schwarzen Gewand über einem aufgeschlagenen alten Buch. Sie lief einen schmalen, verschlungenen Weg entlang, eine von vielen, die an einer beängstigend einlullenden Prozession teilnahmen. Schließlich flog sie nackt auf einem Besen durch die Luft, wobei an ihrem Hintern ein kurzer Schwanz prangte. Aber sobald sie aufwachte und den warmen, entspannten Körper Nasars spürte …

Ywha schaltete sich in die Realität zurück. Unmittelbar vor ihr befand sich ein neues Münztelefon, ein grauer Apparat mit nur einem einzigen, langen und tiefen Kratzer. Wie eine Narbe auf einem jungen Gesicht.

Ywha seufzte mehrmals. Seit zwei Tagen verfolgten sie jetzt diese Telefone. Die Apparate hefteten sich ihr an die Fersen, packten sie bei den Händen, rammten ihr die Hörer unter die Nase: Wähl! Wähl, und Nasar wird sagen: Ywha … Mein Füchslein, wo steckst du denn …

Sie biss sich auf die Lippe. Die Stimme war zu deutlich zu hören, als dass es sich um ein Phantasieprodukt handeln konnte; vielleicht war sie ja imstande, über die Entfernung hinweg Nasars Gedanken zu lesen. Vielleicht …

»Hallo.«

Beinah hätte Ywha aufgeschrien. Sie presste den Hörer so fest ans Ohr, bis es schmerzte.

»Hallo. Wer ist da?«

Ein spröde, angespannte Stimme. Ob er auf den Anruf gewartet hatte? Ob er ahnte, wer am anderen Ende schwieg und in den Hörer atmete?

Er musste es ahnen, begriff Ywha mit einem Frösteln. Es konnte gar nicht anders sein. Nach allem, was vorgefallen war — wer sollte da sonst anrufen und schweigen?!

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die monotone Stimme Nasars. »Ich verstehe Sie nicht … Hallo? Sagen Sie doch was!«

Sie wollte etwas sagen. Sie hatte schon tief Luft geholt und damit durch die Telefonleitung über viele Kilometer hinweg einen erstickten Laut geschickt: chha …

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Nasar wieder. »Versuchen Sie es bitte noch einmal.«

Freizeichen. Andauernd knallten sie aus dem Hörer: wie Gerten, mit denen man in alten Zeiten ungehorsame Kinder bestraft hatte.

Ganz vorsichtig legte Ywha den Hörer auf, trat jedoch nicht aus der Telefonzelle hinaus. Stattdessen beobachtete sie, wie die Tropfen des nach und nach einsetzenden Regens über die Scheibe rannen.

Platz des Siegreichen Sturms Nr. 8, Wohnung 4. Telefonnummer …

Telefonnummern hatte sie sich immer nur mit Mühe einprägen können. Wie sollte man sich auch eine Reihe bedeutungsloser Ziffern merken?

Doch diese Nummer hatte sich ihr ein für alle Mal in den Schädel gehämmert. Was für ein Hohn!

Oder machen ihre Visitenkarten das? Einmal gelesen — und schon behältst du die Angaben für immer im Gedächtnis?

Der Regen tropfte ihr in den Kragen. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.

Nachdem sie den ganzen Tag ziellos durch die Straßen gestreift war, stieß sie schließlich auf den Palast der Inquisition.

Seit ein paar Stunden umrundete sie ihn schon, umzingelte ihn, ging für eine Tasse billigen Kaffees in ein Café, bläute sich die Straßennamen ein und zog ihre Kreise enger und enger. Am Ende erhob sich vor ihr das hohe, recht neue, allerdings im klassischen Stil erbaute Gebäude mit dem spitzen, in den Himmel aufragenden Dach.

Wie ein Vogel vor einem Schlangennest verharrte Ywha an Ort und Stelle. Die Flügel der breiten Tür zierten kupferne Wappen mit der kursiv gehaltenen Inschrift: »Nieder mit dem Abschaum«. Dieser Abschaum, der bin ich, schoss es Ywha durch den Kopf. Sie presste ihre Tasche gegen die Brust.