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Rechts neben dem Haupteingang befand sich eine kunstvolle Glastür. Vor ihr stand eine Reklametafel, nur dass anstelle der üblichen Werbung ein strenges Plakat darauf geklebt war. Ywha blinzelte. Der Nagel in ihrem Nacken schmerzte erbärmlich.

»Hexe, vergiss nie, dass die Gesellschaft dich nicht zurückweist. Erhebe dich über den Abschaum und lass dich registrieren, damit du eine gleichberechtigte und gesetzestreue Bürgerin wirst … Hängst du auch weiterhin dem Bösen an, so verdammst du dich selbst zu Kummer und Einsamkeit … Gemäß Artikel … des Gesetzbuches … Nichtregistrierung … wird mit gemeinnütziger Arbeit bestraft … in Tateinheit mit einem Verbrechen … wird sie vor das Gericht der Inquisition gestellt …«

Ywha schluchzte auf. Jetzt gleich würde sie diese Glastür öffnen und sich auf den Weg machen … zu allen anderen Bürgern, zu gleichberechtigten und gesetzestreuen Menschen wie Nasar. Wenn die Gesellschaft mich nicht zurückweist, warum weist du mich dann zurück?, grummelte sie innerlich. Bist du etwa besser als die Gesellschaft?!

Mit dem Handrücken wischte sich Ywha das kümmerliche Nass unter der Nase weg. Eine schmerzhafte Courage hatte sich ihrer bemächtigt, die ihr jedoch angenehmer vorkam als Verzweiflung oder Panik. Auf der Stelle würde sie den Großinquisitor anrufen. Schluss mit der albernen Grübelei! Aber wo war das Telefon?! Sie war doch voll von Telefonen, diese verdammte Stadt.

Energisch wählte ihre Hand die gesamte Nummer, von Anfang bis Ende, erst bei der letzten Sieben zögerte sie. Aber nur eine Sekunde.

Sie hoffte, ihre Erinnerung trüge sie. Dass die Nummer gar nicht existierte und eine automatische Ansage sie unverzüglich mit widerwärtiger, nasaler Stimme davon in Kenntnis setzte.

Es läutete. Der lange Ton des Freizeichens. In Ywhas Innernem vereiste alles.

Gleich würde eine geplagte Hausfrau an den Apparat gehen: »Wen?! Die Inquisition? Ich bitte Sie, unterlassen Sie solche Scherze! Sie haben sich verwählt.«

Wie oft hatte es schon geklingelt? Drei Mal oder fünf Mal? Der Herr Großinquisitor war ein viel beschäftigter Mann und selten zu Hause …

Beim achten Klingeln hatte sie sich fast beruhigt. Anstandshalber wollte sie das zehnte Klingeln noch abwarten — und dann wieder gehen. Vor allem, da die Entschlossenheit, die sie ans Telefon getrieben hatte, längst verflogen war.

»Hallo.«

Beinahe hätte Ywha den Hörer fallen lassen.

Eine kalte, etwas müde Stimme, die von weit her klang, als käme sie aus einer anderen Welt.

»Hallo, wer ist denn …«

Sie sollte unverzüglich die Gabel herunterdrücken. Den gefährlichen Faden kappen, den sie in ihrer Unvorsichtigkeit gespannt hatte, zwischen sich und …

»Wer ist da?«

Ywha befeuchtete sich die Lippen und streckte die Hand nach der Gabel aus.

»Bist du das, Ywha?«

Sie konnte ihre Hand nicht mehr aufhalten. Die eingeleitete Bewegung setzte sich fort, die Hand drückte auf die Gabel, und zwar so stark, dass sich die eisernen Hörner ihr schmerzhaft ins Fleisch bohrten.

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren im Kreis Rjanka zehn Menschen infolge der Epidemie gestorben, hundertundacht erkrankt; die Schuld für diese Vorfälle wurde den Hexen zugeschoben. Die Nachrichten, die stündlich im Fernseher liefen, brachten unermüdlich das immer gleiche, reißerische Bild: eine junge Hexe mit Schaum vorm Mund, die in die Kamera schrie: »Das ist bloß der Anfang! Das ist bloß der Anfang! Wartet’s nur ab!« Eine Amateuraufnahme des Hexensabbats. Eine aufgelöste Menge. Mitten auf einem Platz war in einem Hexenfeuer ein Körper verbrannt worden. Klawdi nippte an dem heißen Kaffee, verzog jedoch das Gesicht, als handle es sich um Medizin.

Die Aufnahme stammte noch aus dem letzten Jahr. Eine Fernsehgesellschaft hatte dem Verrückten, der sie gemacht hatte, eine unerhörte Summe dafür geboten, und jetzt, kaum war das Wort »Hexe« gefallen, fiel den Leuten in den Sendeanstalten nichts Besseres ein, als diese unscharfen Bilder zur Illustration der jüngsten Ereignisse zu bringen. Klawdi grinste gallig. Sie alle hatten nur eine sehr vage Vorstellung von dem, was ein echter Hexensabbat war. Und bestimmt würden mindestens hundert Leute ihr letztes Hemd für das Recht hergeben, im Videoarchiv der Inquisition zu kramen.

Ein Körper, von Hexen verbrannt. All das waren alte Bilder — aber dort, in Rjanka, hatte man jetzt wirklich jemanden verbrannt, noch dazu eine völlig unschuldige Frau. Und vor dem Sitz der Inquisition in Rjanka demonstrierten seit dem Morgen die Menschen: »Schützt uns vor den Hexen!«

Im welchem Irrenhaus hatte man diese Hysterikerin bloß aufgetrieben? »Das ist bloß der Anfang! Das ist bloß der Anfangt Wartet’s nur ab!«

Jetzt kam eine verängstigte Frau mit einem Kind auf dem Arm ins Bild. »Was haben wir ihnen denn getan, diesen Hexen? Was haben wir ihnen bloß getan? Angeblich sind schon alle Brunnen … und auch das Leitungswasser vergiftet …«

Klawdi stellte den Fernseher ab. Aus einem halbleeren Päckchen fischte er eine weitere Zigarette. In einer Ecke stand ehrerbietig ein Bote, der wohl dachte, er verberge seine Gedanken zur Genüge. Doch hinter der Fassade höflicher Aufmerksamkeit ließen sich auf seinem Gesicht ohne Frage Verzweiflung und Ärger erkennen: Der Großinquisitor macht es sich gemütlich. Der Großinquisitor tut nichts, sondern legt die Beine hoch, trinkt Kaffee und macht einem Päckchen Zigaretten den Garaus, während sich eine Epidemie ausbreitet und die Panik auf die Hauptstadt überzugreifen droht.

Das Telefon blökte mit schwacher Stimme los. »Nieder mit dem Abschaum!«, meldete sich der Polizeichef.

»Nieder mit ihm.« Klawdi ließ das Feuerzeug aufschnippen und blinzelte in die bläulich-gelbe Flamme.

»Man hat sie hergebracht, Patron … Vier. Der Rest taugte ohnehin nichts, den haben wir gleich in der Kreisverwaltung behalten …«

»In den Verhörraum.«

»In welcher Reihenfolge?«

»Egal. In alphabetischer.« Klawdi legte auf und erhob sich. Als der Bote seinen Blick auffing, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück — mit einem Nicken entließ Klawdi ihn.

In seinem Vorzimmer versauerte der Kurator des Kreises Rjanka. Da er den Kollegen, einen Nichtraucher, nicht mit seinem Tabakrauch belästigen wollte, verschwand Klawdi durch eine Geheimtür. Der Kurator wartete bereits seit dem Morgen darauf, vorgelassen zu werden. Klawdi wusste nicht, weshalb er diesen im Grunde anständigen Menschen quälte; darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen. Und er würde versuchen zu vergessen, dass ebendieser Kurator vor fünf Jahren alles darangesetzt hatte zu verhindern, dass Klawdi Starsh seinen jetzigen Posten bekam. Oder sollte er besser versuchen, sich daran zu erinnern?

Der Verhörraum lag traditionell im Kellergeschoss, fünf Minuten von seinem Büro entfernt, wenn er gemächlich ging. Also konnte der Großinquisitor noch in aller Ruhe zu Ende rauchen.

(Djunka. Oktober — Dezember)

Versetzt wurde Starsh noch unter Vorbehalt, doch bereits im Herbst bestand er ordnungsgemäß die beiden fehlenden Prüfungen. Sein Zimmergenosse war nun Juljok My­tez, ein gutmütiger Tollpatsch, der Liebling aller Frauen und ein Ritter mit Mandoline. Im Zimmer gab es fast je­den Tag eine Party, wobei Klaw wie alle grölte und sich ge­­sellig zeigte. Er machte jetzt alles wie alle, denn jene Wor­te von Djunkas Schwester: »Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Do­kija geliebt hat« hatten sich tief in seiner Seele eingenistet.