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Oder war ihr doch ein schneller Tod beschieden gewesen? Schließlich war sie stark und böse gewesen, diese Magda Rewer. Vielleicht hatte sie ja doch einen leichten Tod sterben können.

Jemand klingelte sanft an der Tür. Halb angezogen ging Klawdi in die Diele hinaus. Sein Anblick brachte den vor der Tür wartenden Bodyguard in Verlegenheit. »Es hat bereits jemand vom Flughafen angerufen, Herr Starsh. Ob sie auf uns warten sollen oder nicht …«

»Sie werden sich noch etwas gedulden müssen«, meinte Klawdi ungerührt. »Ich werde ja wohl erst in meine Hosen schlüpfen dürfen, oder?«

Der Bodyguard schwieg höflich.

(Djunka. Dezember — Januar)

Nach diesem Abend fuhr er nie wieder zum Friedhof. Die nächtlichen Besuche am Grab brachten ihm doch keine Ruhe mehr, sondern fachten nur die Unruhe an, die sich in seinem Innern eingenistet hatte.

Juljok freute sich zwar darüber, doch schon bald schien ihn das seltsame Verhalten seines Freundes weit mehr zu beunruhigen als die bisherigen Friedhofsgänge.

Klaw wurde nervös. Jede unschuldige Berührung der Schulter ließ ihn zusammenzucken. Er fürchtete die Dunkelheit — wobei er gleichzeitig gierig zu den nächtlichen Fenstern hinausstarrte, in die Dämmerung hinein. Und der Ausdruck, der in solchen Minuten in Klaws Augen lag, gefiel Juljok in keinster Weise.

»Du … wenn was ist, sag’s ruhig. Kann ja alles mal vorkommen. Brauchst du vielleicht einen Arzt?«

»Vielen Dank, Jul, mit mir ist alles in Ordnung.«

Eines Tages, als Juljok einmal eher vom Unterricht zurückkam als sein Freund, bemerkte er im Zimmer Spuren der Anwesenheit einer dritten Person, woraufhin er vermutete, Klaw hätte eine neue Freundin.

»Klaw, hast du heute ein Mädchen erwartet? Ich glaube, hier ist jemand gewesen, hat die Kekse aus der Schale aufgegessen, ein paar dreckige Fußspuren hinterlassen und ist dann wieder gegangen. Läuft deine Freundin im Wohnheim eigentlich barfuß herum?«

Klaw wurde nicht bleich, sondern blau. Zum ersten Mal kam Juljok der Gedanke, in ein anderes Zimmer überzuwechseln. Um von vornherein jeder Gefahr aus dem Weg zu gehen.

Vermutlich hätte er sich tatsächlich zu diesem radikalen Schritt durchgerungen, wenn er gewusst hätte, dass Klaw allmitternächtlich mit panisch verdrehten Augen aufwachte. Nacht für Nacht träumte er von dem Gesicht, das ihn aus dem Wasser durch das runde Fenster des schwarzen LKW-Reifens anstarrte — und zwar nicht lebendig und froh wie an jenem Sommertag, sondern bleich und reglos, verloren in dem dämlichen Seidenvolant des schweren Sargs.

»Hast du gerade mit der Tür geklappert, Jul? Als du ins Zimmer gekommen bist?«

»Nein … Ich dachte, das warst du.«

»Ich … ich bin im Bad gewesen …«

»Na, dann wird es Pynja gewesen sein, der sein Buch geholt hat. Was ist so schlimm daran?«

»Nichts … aber sein Buch, das liegt da …«

»Dann wird es jemand anders gewesen sein. Was ist denn bloß los?! Hast du Angst, beklaut zu werden? Du führst dich ja wie ein hysterisches Weib auf. Haufenweise Tabletten stopfst du in dich rein. Wenn du so weitermachst, hängst du bald an der Nadel …«

»Verpiss dich doch …«

In der nächsten schlaflosen Nacht gestand Klaw Djunka seine jämmerliche Feigheit ein, bekannte, dass er das Unbekannte fürchte; das, was sich zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein befinde und ihn mit Sehnsucht erfülle. Dabei lebe er doch nur noch, um an Djunka zu denken. Weshalb flößte ihm die Erinnerung an diesen Abend, als der Schneesturm getobt hatte, bloß solche Angst ein? Verübelte sie ihm seine Furcht? Wenn sie ihn jetzt hören könne, solle sie ihm ein Zeichen geben. Seine Liebe würde ausreichen, um jede Grenze zu überschreiten.

Nach dieser fiebrigen Beichte erbarmte sich seiner eine sonderbare Ruhe. Traumlos schlief er die ganze Nacht und wachte um sieben Uhr auf. Wie von der Tarantel gestochen.

Juljok atmete geräuschvoll. Sein Unterricht fing heute erst in der dritten Stunde an. Im Waschraum gegenüber rauschte das Wasser, ihre Mitschüler redeten und kicherten miteinander. Die üblichen morgendlichen Geräusche, an die er zu gewöhnt war, als dass sie ihn aus tiefem Schlaf hätten reißen können …

Da war allerdings noch ein Geruch. Ein seltsamer Geruch, der unangenehme Duft angekokelter Synthetik.

Er stand auf. Im Halbdunkel blinzelnd, tapste er hinter den Paravent, der das »Schlafzimmer« vom »Flur« trennte, und schaltete die Lampe auf dem Tisch ein.

Ein Schneesturm schickte seine Vorboten, Flocken trieben gegen die Scheibe.

Obwohl er noch nicht verstand, was eigentlich los war, war sein Hemd, eine Reaktion seines Unterbewusstseins, am Rücken bereits klatschnass.

Auf dem alten Holztisch, auf dem sich Konserven, Kekse, eine Kaffeekanne, Streichhölzer und Kernseife türmten, lag seit Urzeiten ein buntes Tischtuch aus Wachstuch.

Mitten in den daraufgedruckten Äpfeln und Tomaten, Zwiebeln, Nüssen und anderen Gaumenfreuden prangte jetzt ein schwarzer Brandfleck.

So etwas passiert, wenn du ein Bügeleisen auf ein Wachstuch stellst. Das Tuch trägt eine gekräuselte, schwarze Narbe davon, und es entsteht dieser ekelhafte Brandgeruch. Genau wie hier!

Nur dass derjenige, der vor Kurzem hier gewesen war, die Tischdecke weder mit einem Bügeleisen noch mit einem Lötkolben berührt hatte. Denn bei dem Brandmal handelte es sich um den Abdruck einer Hand. Die fünf Finger waren deutlich eingebrannt.

Klaw riss sich zusammen.

Juljok schnaufte noch immer. Aufmerksam lauschte Klaw und zuckte bei jeder Veränderung in Juljoks Atmung zusammen. Dann machte er sich daran, das Tischtuch ruckweise herunterzuziehen.

Die Dosen klapperten. Klaw fluchte lautlos und beeilte sich. Aus irgendeinem Grund glaubte er felsenfest, jeder fremde Blick auf diesen Abdruck löse ein nie gekanntes Leid aus. Zum Glück hatte der Tisch an der Stelle darunter kaum gelitten. Die wenigen Rußspuren kratzte Klaw verbissen mit einem Messer ab.

Während Juljok schlief, zog Klaw seinen Mantel an, gleich über seinen Pyjama, und schlüpfte aus dem Zimmer, eine kleine Zeitungsrolle an sich gepresst.

Als er zurückkam, ging der Geruch verbrannten Plastiks von ihm aus. Niemand hatte ihn beobachtet. Niemand würde je etwas erfahren.

An einer Ecke unterhielten sich fünf Mitarbeiter des Tschugeister-Dienstes bei einer Zigarette. Wer an ihnen vorbeiging, wahrte einen respektvollen Abstand. Klaw dagegen näherte sich ihnen mit einem breiten und einnehmenden Lächeln. »Gebt mir eine Zigarette, Freunde.«

Konfrontiert mit fünf solchen Blicken hätte sich einer wie Juljok Mytez vor Angst in die Hosen gemacht. Klaw aber zuckte nur bescheiden die Achseln. »Ich bin ein armer Schüler, meine Eltern geben mir kein Geld für Zigaretten, was ja auch verständlich ist, oder?«

»Stimmt«, erwiderte ein Schrank von einem Mann mit kurzen Beinen. Die breite Fellweste ließ seine Figur so gedrungen wie einen Tisch wirken. »Rauchen schadet der Gesundheit, und Schnorren birgt auch ein gewisses Risiko.«

»Spiel dich nicht so auf«, meinte ein anderer amüsiert, der leicht gebeugt dastand und glasklare blaue Augen hatte. »Bist du überhaupt schon siebzehn?«

»Nein«, erklärte Klaw, der sich nicht zu einer Lüge bequemen wollte. »Aber weil ich schon mit einer Frau geschlafen habe, könnt ihr mich ruhig für volljährig halten. Okay?«