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Vier der fünf schienen einen kurzen Moment lang irritiert. Der Fünfte, ein nicht mehr ganz so junger Mann mit braun gebranntem, faltigem Gesicht, nickte wohlwollend. »Das ist ein Argument. Hier.«

Er legte eine kurze und dicke Zigarette in Klaws Hand, der ein Feuerzeug folgte. »Lass sie dir schmecken …«

Klaw nahm den ersten Zug seines Lebens.

Die vier, die ihn anschwiegen und ihm ihre eigene Verwirrung immer noch übel nahmen, erhielten prompt die Gelegenheit zur Revanche. Der Junge hustete, die Lungen rebellierten gegen den starken Tabak der Matros, aus seinen Augen schossen dicke Tränen.

»Man soll den Mund eben nicht so voll nehmen!«

»Wie war das mit der Frau? Ob wir dir das abkaufen sollen? Oder hast du dich da geschickter angestellt?«

»Das werde ich deiner Schule melden! Wie läuft das? Gibt’s bei euch noch die Prügelstrafe?«

Seinen Brechreiz überwindend, nahm Klawdi Zug um Zug. Vor seinem inneren Auge vermoderte das Tischtuch mit der eingebrannten Hand. Wenn die Tschugeister das gesehen hätten …

Er musste die Furcht vor ihnen besiegen, vor den Tschugeistern, diesen Killern von Njawken. Denn er war der Komplize einer Njawka und hatte das Beweisstück vernichtet. Von nun an würde Djunka mit ihm leben, das wusste er genau.

Ihm war egal, was sie jetzt war. Hauptsache, sie würden zusammenbleiben.

3

In der Metro sitzend, in eine Ecke gekauert, fand Ywha für rund sechs Stunden nervösen Schlaf. Um sie herum kamen und gingen Menschen. Sie träumte, jemand ziehe ihr die Tasche aus der Hand, man wecke sie, nehme sie fest, bringe sie irgendwohin … Panisch riss sie die Augen auf — und beruhigte sich, schlief wieder ein, während die trüben Lampen brannten, Fahrgäste ein- und ausstiegen, Tunnel an ihr vorbeizogen und sich in ihren Traum bald Stimmen mengten, die mal wie eine wütende Menge unter freiem Himmel, mal wie ein durchdringender Kinderchor klangen.

Irgendwann wurde der Betrieb für die Nacht eingestellt, und ein mürrischer Alter in Dienstuniform forderte sie auf auszusteigen. Da war es ein Uhr nachts.

Wo sollte sie jetzt hin? Verloren stand Ywha in einer völlig menschenleeren Straße unterm Sternenhimmel. Es roch nach Veilchen, das Geäst wogte beruhigend. Ywha hatte keine Ahnung, an welchem Ende der Stadt sie sich befand. An der Straße führte eine gelbe Mauer entlang, der sie nur folgte, weil ihr sonst nichts Besseres einfiel.

Sie stieß auf Eisenbahngleise und ein paar abgekuppelte Güterwaggons, die hier aus irgendeinem Grund die Nacht verbrachten. Es roch nach Maschinenöl und schon wieder nach Veilchen. Der Wind trug den Geruch von Wasser heran, offenbar lag in der Nähe ein Fluss oder ein See. Sobald Ywha ein abgeschiedenes Plätzchen für sich gefunden hätte, könnte sie sich endlich richtig ausschlafen. Genau in diesem Augenblick beschlich sie das Gefühl, hier sei noch jemand.

Ywha sah in der Dunkelheit nicht so gut und vermochte die Gedanken eines Menschen nicht so treffend zu erahnen, ihre Intuition war allerdings immer gut ausgeprägt gewesen, weshalb sie sofort verstand, dass sie hier nicht bleiben konnte. Hier sollte sie nicht schlafen — lieber nicht.

Wie zur Bekräftigung dieses Entschlusses leuchteten in einiger Entfernung gespenstisch die weißen Augen von Taschenlampen auf.

Ywha blieb stehen. Alle Ängste, die die horrorverliebte Phantasie der Menschen mit einsamen, verlassenen Orten in Verbindung brachte, fielen ihr prompt ein und verknäulten sich zu einem undurchdringlichen Ganzen. Lauerten hier etwa Verrückte? Vergewaltiger? Kannibalen?

Eine Frau schrie. Scharf und laut wie ein großer Vogel. Die Taschenlampen krochen vorwärts und drifteten zu einem Halbkreis auseinander. Ywha fühlte sich wie in einem schlechten Traum: Ihre Beine sollten sie forttragen, rührten sich aber nicht von der Stelle.

Zwei Frauen sprangen auf Ywha zu. Da sie in der Dunkelheit und im Lauf nur schlecht auszumachen waren, wirkten sie fast wie Zwillinge. Beide waren jung und bleich, beide trugen nur Lumpen. Und in beider Augen glomm die Panik eines gehetzten Tiers, eine pathologische Angst, derzufolge dem, was sie in der Dunkelheit verfolgte, ein hundertfach größerer Schrecken anhaftete als dem Tod.

Ywha wich zurück. Die beiden huschten an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, obwohl sie sie fast umgestoßen hätten. Von ihnen ging ein Geruch aus, den Ywha nicht einzuordnen wusste, der jedoch noch vom Geruch der Angst überlagert wurde. Kurz verlor Ywha die Kontrolle über sich.

Sie ergriff die Flucht. Sie musste es bis zur Metro schaffen, die Straße erreichen und diese schreckliche gelbe Mauer hinter sich lassen. Sie feuerte sich an weiterzulaufen, alles zu geben …

Die beiden rannten vor ihr her. Als sie sich unter dem dunklen Bauch eines Waggons abduckten, begriff Ywha, dass auch ihre Rettung dort lag. Kalt funkelte das Gleis im Licht einer einsamen Laterne. Sich die Hände aufkratzend und die Tasche wegwerfend, die sie nur behinderte, kroch sie auf die andere Seite. Wieder und wieder verschwand sie unter den Waggons — eine Füchsin im Wald, der von Jägern umstellt war, ein rotfelliges Tier, das der Hatz zu entkommen suchte, seine Spuren verwischte und weiterlief, immer weiter …

Das grelle Licht der Taschenlampe spiegelte sich in einer Konservendose wider, die jemand weggeworfen hatte. Ywha schrie auf. Die beiden, die vor ihr herrannten, ebenfalls. Keinen klaren Gedanken vermochte Ywha mehr zu fassen, und so verwandelte sie sich endgültig in ein Tier, das den schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlanghetzte; mit letzter Kraft wollte sie sich durch einen schmalen Mauerspalt zwängen. Hinter dieser Mauer winkte Rettung, da gab es Menschen und Häuser, da gab es …

Im letzten Moment packte sie jemand am Bein. Die blassen Zwillingsgestalten schrien erneut auf, zweistimmig, jämmerlich und panisch.

Es waren so viele. Und sie waren überall. Sie bildeten Ringe, diese Schwarzgewandeten, die sich in der Dunkelheit der Nacht verloren hätten, wenn ihre groben Westen aus Kunstpelz nicht im schneidenden Licht der Laternen gefunkelt hätten. Kaum hatten sie einen Kreis gebildet, legten sie die Hände auf die Schultern des Nebenmannes und schritten vorwärts.

Ein Schrei.

Der Kreis der Tänzer zog sich zusammen, als sei er eine fleischfressende Pflanze, die eine Fliege erwischt hat und die Blatthälften zufrieden über der Beute zusammenklappt, als sei er ein grummelnder Magen, der sich anschickt, alles Lebendige zu verdauen, das unvorsichtigerweise in seine Nähe gekommen ist. Der Tanz der Tschugeister ist nichts anderes als das Instrument, mit dem eine grauenvolle Strafe vollzogen wird.

Ihr Reigen begann, dieser Wechsel komplizierter Bewegungen, mal langsamer und bedächtiger, mal abrupter und entschlossener, ganz so wie bei einem Spinnrad, das seine Fäden ausspuckt. Nur dass dieser schwarze Ring, der sich drehte, jemandem den Tod brachte.

In die Szenerie mischte sich der Veilchengeruch, ein unnatürlich starker Geruch.

Die Erde erbebte.

Mit jeder Bewegung vervielfältigten sich die unsichtbaren Fäden, die auf ihre Opfer einpeitschten, diese pulsierenden Schläuche, die ihnen das Leben nahmen, diese schwarzen Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten. Zwei Schatten lagen in einer quälenden Agonie, ein dritter gehörte der erstarrten, lautlos schreienden Ywha.

Die erstickende, nach Veilchen riechende Nacht wendete alles nach links, und von der dampfenden, nach außen gekehrten Innenseite ihres Fells baumelten die inneren Organe herab.

»Hexe …«

Zu ihrem Glück verlor Ywha kurzzeitig das Bewusstsein. Die Tschugeister zogen sie, gepackt an Armen und Schultern, über das Gras und die kleinen, sich in den Körper bohrenden Steine. Die Nacht verwandelte sich in Tag, denn gleich mehrere Scheinwerfer knallten ihr ins Gesicht, das sie aufkreischend mit den Händen bedeckte.

»Halt den Mund, du Idiotin!«

»Ich gehöre nicht zu denen!«

»Das kannst du uns alles noch nachher erklären …«

Dann ließen sie sie in Ruhe.

Dafür fingen nun die Njawken an zu schreien. Und Ywha ahnte, was sie durchmachten. Am Ende blieb nur die leere Haut von ihnen übrig, dieser Overall, der so kunstvoll zusammengenäht schien. Und die Plättchen der Fingernägel blieben auch noch übrig, ebenso wie die weißen Bälle der Augen und die Haare auf dem flachen Kopf, der an einen schlaffen Fußball erinnerte und deshalb übernatürlich groß wirkte.

Als die Tschugeister ihren Tanz beendet hatten, war das Einzige, wozu Ywha noch imstande war, von ihnen wegzukriechen. Unter den Waggon, wo sie sie jedoch gleich fanden.

»Komm her!«

Sie leistete keinen Widerstand.

»Du bist doch eine Hexe, oder? Was machst du dann hier, du Idiotin?«

Sie hätte es ihnen erklärt, bestimmt hätte sie das.

»Das Mädchen ist ja mit den Nerven völlig am Ende«, mischte sich einer der Tschugeister ein, dessen Taschenlampe ein Gelbfilter verblendete. »Was treibt sie sich auch nachts in dieser finstren Gegend rum? Und warum rennt sie vor uns weg? Schließlich ist sie doch keine Njawka!«

Ywha spürte, wie ihre willenlose Hand auf die kräftige Schulter von jemandem gelegt wurde. »Gehen wir, Mädchen. Und du …« Das galt seinem Kollegen. »Warum händigst du ihr nicht gleich ein Handbuch über das richtige Verhalten von jungen Hexen aus, die sich nicht initiieren lassen wollen und die Registrierung fürchten? Das trifft doch auf dich zu, oder?« Letzteres galt Ywha.

Ywha konnte nicht aufhören zu schluchzen. Der mit der harten Schulter begriff alles viel zu schnell, erklärte alles viel zu ausführlich. Der Boden unter ihr schwankte, weshalb sie sich, bemüht, das Gleichgewicht zu wahren, in die Fellweste verkrallte, die seine Schulter bedeckte.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Wir tun dir nichts. Auf solche wie dich haben wir’s nämlich gar nicht abgesehen.« Das war der mit dem Gelbfilter. »Kann schon sein, dass andere bei dir nichts hätten anbrennen lassen, aber wir sind in festen Händen. Und unsere Freundinnen sind sauberer und auch hübscher als du.«

Jemand lachte. Jemand warf ihm ein freundliches »Halt den Mund« hin. Gegen die Erstarrung und den Schmerz ankämpfend, kam Ywha zu dem Schluss, der Besitzer des gelben Filters müsse der Scherzbold unter ihnen sein. Ein alberner Tschugeist — Sachen gibt’s!

»Hey, Mädchen, ist das deine Tasche? Oder gehört die einer von denen!«.

Jammernd presste Ywha die Tasche an sich.

Ihre Autos standen auf der anderen Seite der Mauer. Ein Laster mit einem gelb-grünen Blinklicht auf dem Dach und einige PKWs, große und kleine, ältere und noch nicht ganz so abgenutzte.

»Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte ein großer Tschugeist mit rundem, fast kahl rasiertem Schädel, während er die Tür des Lasters vor Ywha aufriss. Achtlos hatte er sich einen mit einem Reißverschluss gesicherten Plastiksack unter den Arm geklemmt. Ywha wusste, was sich darin befand.

Und dieses Wissen musste sich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn derjenige, auf dessen Schulter sie sich stützte, sprach jetzt beruhigend auf sie ein: »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben …«

Sie schüttelte den Kopf. Sie würde sich nicht zu Tode erschrocken in diesen Laster setzen. Eher würde sie sich vors Auto werfen …

»Na komm, ich nehm dich mit«, sagte der mit dem Gelbfilter plötzlich völlig ernst. »Ich habe einen Maxik. Vor einfachen PKWs wirst du doch keine Angst haben, oder?«

Alle sechs, die noch vor einer halben Stunde Teil jenes monsterhaften Mechanismus gewesen waren, sprachen jetzt leise miteinander, wie ganz normale Menschen. Ein Auto nach dem nächsten wurde angelassen. Mit einem Mal begriff Ywha, dass auch die Tür des Lasters zuschlug, um sie herum niemand mehr war — nur derjenige, an dessen Schulter sie sich festgehalten hatte. Er vereinbarte etwas mit dem rundschädligen Hünen, bevor sie dann über den kommenden Tag sprachen, den sie jedoch nicht »morgen«, sondern »heute« nannten.

Der Himmel war nicht mehr schwarz, sondern schon grau. Ein dunkles, trübes Grau, die Dämmerung …

»Was ist? Weißt du nicht, wohin?«, wurde Ywha von dem gefragt, den sie insgeheim den Scherzbold getauft hatte. »Hast du kein Zuhause? Hat man dich rausgeschmissen? Oder bist du nicht von hier? Hast du kein Geld?«

Sie wollte ihn schon bitten, sie in Frieden zu lassen, verzog stattdessen bei dem kläglichen Versuch, ein Lächeln zustande zu bringen, aber nur die Lippen.

»Gehen wir.« Er griff nach ihrem Arm.

Er fuhr wirklich einen Maxik. Einen kleinen Wagen, dessen Hintern offenbar gerade Bekanntschaft mit dem Laster geschlossen hatte, sah der Kofferraum doch wie eine Quetschkommode aus.

»Ich habe jetzt einen Tag frei … Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin kein Tier … Aber schau mal in den Spiegel. Du bist eine schöne Frau … Ich versteh ganz gut, dass die Inquisition euch jagt, aber ich gehöre nicht dazu … Wirf deine Tasche auf den Rücksitz, was klammerst du dich so daran fest, ich nehm sie dir schon nicht weg!«

Die gelbe Mauer zog an ihnen vorbei, immer schneller und schneller.

Ywha atmete stoßweise und schloss die Augen.