»Ich lege mich jetzt hin, Ywha. Geh in die Küche, nimm dir aus dem Kühlschrank, was dir gefällt, und iss etwas … Wenn du willst, schlaf auf dem Sofa. Es gibt nur zwei Sachen, die du nicht machen solltest.« Er seufzte. »Lass die Finger von der Wohnungstür und setz keinen Fuß in mein Arbeitszimmer. In beiden Fällen würde ich sofort aufwachen, und das würde, wie es in Romanen so schön heißt, meine Nerven erschüttern. Geh auch nicht ans Telefon …«
Ywha brachte kein Wort heraus.
Die Ereignisse wirkten erstaunlich irreal. Inzwischen hatte sie sich auf den piekenden Läufer vorgewagt. Ihre Socken waren durchnässt, es schien ihr jedoch allzu leger, sie vor dem Großinquisitor auszuziehen. Dergleichen wäre unangebracht, zu intim.
Die schwere Tür des Arbeitszimmers schloss sich. Die eigenwillig geschwungene Klinke klackte. Ohne viel Federlesens ließ sich Ywha einfach auf den Boden herab.
Draußen regnete es noch immer. Im Fernseher, den Klawdi auszuschalten vergessen hatte, flimmerte ein Reklamespot.
Im Schneidersitz lauschte Ywha auf das Wehklagen ihrer Muskeln. Die Jeans waren völlig durchgeweicht. Ein Feuerchen wäre jetzt schön, ein Kamin …
Ein Lagerfeuer.
Ywha erschauderte. Im Fernsehen loderte ein Scheiterhaufen, doch die Kamera, offenbar von einem Amateur geführt, zuckte heftig, weshalb das Metallgerüst nicht zu erkennen war, an dem die Flamme hochzüngelte. Ach nein, jetzt erkannte sie den Basketballkorb. Und offenbar war an die Metallstange ein Mensch gefesselt. Das am Ring baumelnde Netz war bereits verbrannt. Schreiende Menschen, die an Fans erinnerten. Ihre Schreie blieben stumm, denn der Ton war abgestellt. Ein Feuerwehrauto sauste ins Bild, weitere Menschen eilten herbei, diesmal in Uniform. Wie in Zeitlupe gingen Knüppel nieder. Dann brach der Film ab.
Der sprechende Kopf des Kommentators. Immer noch dieser südländische, vogelartige Typ mit dem scheuen Mitleid in dem hageren Gesicht. Ywha hielt nach der Fernbedienung Ausschau. Da sie sie nicht fand, ging sie zum Fernseher und suchte den Knopf, der den Ton zuschalten würde.
»… hat darüber hinaus bestätigt, dass nie zuvor in den letzten zwanzig Jahren derart strenge Maßnahmen ergriffen worden sind. Ihre Wirksamkeit hätten sie bereits unter Beweis gestellt, denn zwei Stunden nach Einleitung der prophylaktischen Vorkehrungen im Kreis Odnyza konnten fünf extrem gefährliche Individuen vernichtet und neunzehn Durchschnittshexen verhaftet werden. Der Großinquisitor hält es zudem für seine Pflicht zu betonen, dass er in engem Kontakt mit den Einrichtungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung stehe und kein weiteres Umgreifen der Lynchjustiz zulassen werde, da diese nicht nur der Inquisition selbst Schaden zufüge, sondern auch als inhuman und blasphemisch einzustufen sei …«
Mit untergeschlagenen Füßen saß Ywha da, und der allzu nahe Bildschirm brannte ihr in den Augen.
»… größte Kräfte wende man nach wie vor auf, um unregistrierte Hexen aufzuspüren. Von heute an würden alle Todesurteile der Inquisition innerhalb von vierundzwanzig Stunden vollstreckt, zudem sei die Liste der Straftaten, die eine Verhaftung oder den Tod einer Hexe nach sich ziehen, erheblich erweitert worden …«
Noch während Ywha den Apparat ausschaltete, spürte sie genussvoll die eigene Macht. Ein perfides Vergnügen, als der vogelgesichtige Sprecher verblasste und erlosch, sich zusammenzog — und alles, was von ihm noch blieb, der graugrüne Spiegel des Bildschirms war.
So, so. Da hockte sie also in der Wohnung des Großinquisitors, auf seinem Fußboden, vor seiner stummen Glotze. Bleib jetzt ganz ruhig, du Hexe, verlier bloß nicht die Nerven. Draußen im Regen wäre es weitaus ekliger. Für Hexen ist im Augenblick alles etwas komplizierter, ihr ohnehin nicht gerade einfaches Leben eben auch.
Feuchte Spuren auf dem Boden hinterlassend, ging sie in die Küche. Mit zusammengepressten Lippen sah sie sich um und öffnete den Kühlschrank. In ihrem Mund wurde es sofort warm. Spucke sammelte sich. Zum Glück war ihr gesunder Appetit noch immer stärker als jedes Unglück. Sie würde sich gar nicht erst etwas warm machen, sondern gleich alles kalt essen. Nur einen Tee wollte sie sich kochen.
Sie wandte sich dem Herd zu. Der Kessel funkelte ihr mit einer spiegelblanken Seite zu, in der sich ein Mensch abzeichnete, der im Türrahmen stand.
Ywhas Arme wurden schwer. Selbst der Kessel wurde unsagbar schwer, obwohl doch nur Wasser für zwei Tassen darin war.
»Ich kann nicht einschlafen«, erklärte der Inquisitor fast entschuldigend. »Das ist zwar ärgerlich, erstaunt mich aber auch nicht besonders.«
Er trug einen schwarzen Hausmantel, dessen bodenlanger Schnitt sie an ein mittelalterliches Gewand erinnerte.
»Dafür haben die Menschen jede Menge Wunderpillen ersonnen«, sagte Ywha mit gesenktem Blick.
»Die wirken bei mir nicht«, gestand der Inquisitor. »Ich habe einen besonderen Organismus, ist dir das noch nicht aufgefallen?«
Indem Ywha schluckte, vertrieb sie das Gespenst der Übelkeit.
»Um deine Abwehr könnte dich wirklich jede Kampfhexe beneiden«, bemerkte der Inquisitor mit einem seltsamen Lächeln. »Lass uns was essen.«
Doch wie Ywha feststellte, war ihr der Appetit schlagartig vergangen. Sie beobachtete, wie die Wassertropfen auf dem spiegelblanken Kessel zitterten, zischten und verdampften. »Was werden Sie jetzt mit mir machen?«
»Gute Frage …«, erwiderte der Inquisitor mit hochgezogener Braue.
Zum ersten Mal traute sich Ywha, ihm ins Gesicht zu blicken. Ein müdes Gesicht, das musste sie zugeben. Beleuchtet von dem weißen Laternenlicht, obwohl es bereits heller Tag war.
»Eine gute Frage, Ywha.« Gedankenverloren holte der Inquisitor ein krosses, helles Brötchen aus dem Brotkasten. »Hast du Nasar angerufen?«
Sie wandte sich ab.
»Weißt du …« Der Inquisitor schnitt das Brötchen so akkurat in Scheiben, dass es jedem Restaurant Ehre gemacht hätte. »… schon in meiner Kindheit hat man mir beigebracht, dass die persönlichen Probleme eines Menschen nur diesen selbst etwas angehen.«
»Warum haben Sie es ihnen dann gesagt?«, zischte Ywha kaum hörbar. »Sie wollen mich doch … bei lebendigem Leibe … Warum? Was habe ich Ihnen getan?«
»Es ist Nasar, der dir deinen Verrat krummnimmt«, erklärte der Inquisitor kalt. »Früher oder später wäre sowieso alles herausgekommen, nur wäre es dann noch schmerzlicher gewesen.«
»Das geht gar nicht.«
»Das glaubst du.« Die Stimme des Inquisitors knisterte wie Asche, die der Wind durch einen Schornstein fegte, und ließ Ywha frösteln.
Das Wasser kochte, der Kessel pfiff. In seinem Hals muss auch eine Pfeife stecken, dachte Ywha. Damit er anschlagen kann wie ein fröhlicher Hund.
»Die persönlichen Probleme …«, knurrte Ywha aufgebracht. »Man sollte das nicht verwechseln … die persönlichen Probleme und … die beruflichen Pflichten … Aber Sie wollten ja offenbar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen …«
»Du solltest dich hinsetzen, Ywha«, sagte der Inquisitor müde.
»Ich stehe lieber.«
»Setz dich.«
Indem sie sich am Rand des Tisches festkrallte, versuchte sie stehen zu bleiben, während der hingeschleuderte Befehl mit ihrem Willen kämpfte. So machen sie es!, schoss es Ywha durch den Kopf. Genau so. Da hat mich das Mädchen in der Schuluniform nicht angelogen.
Der Boden kam immer näher. Ein sauberer Boden, gewischt von den Händen einer rechtschaffenen Putzfrau. Mit einem lustig gewürfelten PVC …