»Mein Junge, dein Leben hat heute auf Messers Schneide gestanden. Sei nicht böse auf mich, denn ich will dir nur helfen. Nächstes Mal hast du vielleicht nicht so viel Glück. Gestern haben wir einen fünfzehnjährigen Jungen aus der Badewanne gezogen. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.«
Die Wanne. Das Badezimmer. Was für ein ekelhaftes Wort!
In diesem Augenblick schoss Klaw ein unglaublicher, ein widerwärtiger Gedanke durch den Kopf. Er spiegelte sich in seinem Gesicht mit derart unverfälschter Panik wider, dass die Hand, die auf seiner Schulter lag, spürbar fester zupackte. »Ganz ruhig … Es ist ja vorbei … Dir ist nichts passiert …«
Der eingeschaltete Föhn am Rand des abschüssigen Brettes. Wie war er dorthin gekommen?!
Djunka hatte so geweint …
»Dein Leben hat heute auf Messers Schneide gestanden.«
»Fällt’s dir wieder ein?«
Klaw schluckte dicken, bitteren Speichel hinunter. Das konnte nicht sein. Das war bloß ein dummer Zufall. Und die Kerle hier wollen mich ins offene Messer laufen lassen.
Klar, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich lebe mit einer Njawka zusammen, wir haben eine Wohnung in …
»Nun komm schon, Junge, mach den Mund auf. Niemand wird je erfahren, dass du uns das gesagt hast. Das behalten wir für uns.«
Und der Fahrer?! Er steht hier neben uns, kriegt den Mund nicht zu, in seinen Augen schimmern Verwunderung und eine gehörige Portion Ekel.
»Vielen Dank …« Klaw nickte ihm unbeholfen zu. »Ich … komme schon alleine nach Hause. Fahren Sie ruhig weiter.«
Ein Schnalzen mit der Zunge. Die Wagentür schlug zu. Klaw wartete, bis das Auto losfuhr. »Ich …« Wie widerwärtig das alles war, wie beschämend. »Ich … war … mit einer Frau zusammen. Ich … von der Straße … ich habe ihr Geld gegeben. Vermutlich ist es eine Nutte gewesen.«
Seine Lippen bewegten sich kaum. In diesem Moment glaubte er selbst, was er da sagte, er glaubte es um der Sache willen — doch blieb ein Gefühl, als durchschwimme er ein Abflussrohr.
»Ich … also, bei uns in der Schule, da gibt es ein Mädchen, Blocha … wir beide haben … also, das war nicht besonders schön. Deshalb wollte ich … dann hat sich das zufällig so ergeben. Die Frau hat mich angesprochen, Ehrenwort … auf der Straße … jetzt fällt’s mir wieder ein … das war an der Ecke Prorywna-Straße, bei der Straßenunterführung …«
Vor seinem inneren Auge entstand der Stadtplan. Den Ort, an dem es zu besagtem Treffen gekommen sein sollte, sah er klar vor sich. Je mehr Details er lieferte, desto glaubwürdiger wurde seine Geschichte.
Die Tschugeister hörten ihm schweigend zu, bis zum Ende.
»Die Adresse?«, fragte der Größere leise, sobald Klaw mit hängenden Schultern verstummte.
»Straße des Ewigen Morgens. Da gibt’s ein Hotel … genauer gesagt, mehrere. Sie hat ein Zimmer für eine Stunde gemietet …«
»Und die eine Stunde hat euch gereicht?«
Der kleinere der beiden Tschugeister konnte sich offenbar keinen Witz verkneifen.
»Wie viel?«, wollte der Größere wissen.
»Hä?«
»Wie viel hat das Zimmer gekostet?«
»Ich weiß es nicht.« Klaw klapperte mit den Augen. »Sie hat das bezahlt …«
Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Entweder luden sie ihn jetzt ins Auto und suchten das Hotel, in dem er angeblich gewesen war; sofern sie nur eine gewisse Hartnäckigkeit an den Tag legten, würden sie ihn dann recht schnell der Lüge überführen. Oder sie winkten ab, weil die Straße des Ewigen Morgens mit zweifelhaften Absteigen nur so gespickt war, die ein Zimmer für ein, zwei Stunden vermieteten, ohne von ihren Gästen Papiere zu verlangen, und wo du, sobald du das Geld hingeblättert hast, nach oben gehen kannst.
Die Tschugeister wechselten einen Blick. Sie trafen eine Entscheidung. Sie konnten sich kaum vorstellen, dass ein Teenager imstande war, so zu lügen. Sie kannten Klaw eben nicht.
»War das alles?«
»Das schwöre ich bei allem, was euch heilig ist. Schließt mich ruhig an einen Lügendetektor an …«
Beide Tschugeister deuteten ein Lächeln an.
»Hast du deine Papiere dabei?«
Er zog seinen in Plastik eingeschweißten Schülerausweis aus der Innentasche.
»Aha, Klawdi Starsh, Wyshnaer Schule Nr. 3. Wir werden deinen Lehrern selbstverständlich nichts von deinen fragwürdigen Ausflügen berichten. Aber das nächste Mal … Hast du wirklich nicht gemerkt, dass sie eine Njawka war? Eine Untote?«
Ein Wort wie ein achtlos geschleudertes Messer. Wie ein niedersausendes Beil.
»Nein, sie war ein Mensch«, sagte er mit Flüsterstimme. Als die Tschugeister daraufhin grinsten, glichen sie einander wie Brüder.
»Das ist der verbreitetste Fehler«, sagte der Größere bedächtig. »Die Menschen sehen häufig Menschen in ihnen. Sie haben sogar Angst, sie uns zu übergeben. Als würden wir sie quälen … Dabei sind sie Untote, mein Junge. Sie sind Njawken. Leere Hüllen von Menschen, angefüllt mit … äh … dickem Nebel. Wenn wir den Nebel töten, fällt die Hülle in sich zusammen. Das sind keine Menschen. Wie soll ich dir das erklären? Es ist, als ob dein Mörder in der Maske einer schönen Frau zu dir käme. Oder, noch schlimmer, in der Maske deiner Mutter …«
Klaw wollte sich hinsetzen. Gleich hier, auf den feuchten Asphalt.
Klaw wollte schreien: Das ist gelogen! Was soll das heißen?! Mörder?! Wenn hier einer ein Mörder ist, dann ihr!
Aber er sagte kein Wort, sondern verschloss mit einer billigen, stinkenden Zigarette seinen Mund.
5
»Geh rein!«
Ywha blinzelte im Licht, das sie jäh überflutete. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, hier Schmutz und ausgebleichte Tapeten vorzufinden. Vermutlich lag das an dem Eindruck, den der dunkle, verdreckte Hauseingang auf sie gemacht hatte. Doch schon der Flur der Wohnung war sauber und ordentlich, sogar geschmackvoll. Das einzige Manko war seine enorme Enge.
Halt, nein, da gab es noch etwas, das negativ auffiel. Ywha zog die Nase kraus, als sie den kaum wahrnehmbaren Geruch einer leeren Wohnung roch.
»Nur zu, geh durch, sonst treten wir uns gegenseitig auf die Füße.«
Die massive Garderobe war leer. Als Ywha die Schlaufe ihrer Jacke über einen geschwungenen Kupferhaken schob, durchlief sie ein Zittern.
»Ist das … Wohnt hier niemand?«
»Manchmal wohne ich hier.« Aus dem Schuhschrank holte der Inquisitor ein Paar Hausschuhe für Frauen. »Manchmal auch niemand … Hier, probier die mal an.«
Die Hausschuhe waren fast neu. Ywha zögerte. Es kam nur selten vor, dass sie fremde Sachen anzog, und jedes Mal fühlte sie sich dabei nicht so recht wohl. Immer meinte sie, die bisherigen Träger hätten einen Teil von sich darin gelassen. Die Wärme ihres Körpers vielleicht oder ihren Schatten.
Der Inquisitor blickte zu ihr hinüber, schien etwas sagen zu wollen, zog sich dann aber schweigend ins Wohnzimmer zurück. Ohne noch länger darüber nachzugrübeln, schlüpfte Ywha schließlich in die Hausschuhe, die ihr nur ein wenig zu groß waren.
Das Zimmer passte zum Flur. Ein ordentlicher, gediegen eingerichteter Raum, der jedoch erstaunlich klein war. Zwei weiche Sessel und ein Bücherschrank füllten ihn fast ganz aus, nur die Decke und ein schmaler Gang für einen Läufer blieben noch frei. Auf den Büchern lag Staub, dessen Geruch Ywha nicht entging.