»Hier macht niemand sauber«, erklärte der Inquisitor unerschüttert. »Wenn es dir gefällt, bleib hier. Im Bettkasten ist frische Bettwäsche, im Bad gibt es Warmwasser. Du kannst alles benutzen. Leg danach aber alles wieder an seinen Platz zurück.«
»Gehört diese Wohnung … auch Ihnen?«
»Letztlich … schon«, gab der Inquisitor mit gerunzelter Stirn zu, als bekümmere ihn ihre Begriffsstutzigkeit. »Ja, in gewisser Weise gehört mir diese Wohnung auch … Lebensmittel sind in der Tasche da. In der Küche gibt es einen Kühlschrank, Geschirr und Konserven. Wenn du willst, mach dir etwas zu essen. Das Telefon steht im Schlafzimmer, du kannst es ruhig benutzen. Eine Bedingung gibt es allerdings, Ywha. Verlass die Wohnung nicht. Nicht einmal, wenn ein Feuer ausbricht.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Also, falls es brennen sollte, würde ich es vermutlich schon tun.«
Er lächelte nicht zurück. »Nein«, sagte Klawdi entschieden. »Wenn ich könnte, würde ich dich ohne viel Federlesens einschließen. Aber da dieses Gebäude als Wohnung und nicht als Gefängnis geplant war, ist das einzige Schloss dein gesunder Menschenverstand. Also, Ywha …«
Seine Augen funkelten entschlossen. Ywha hatte den Eindruck, ein Eisenreifen ziehe sich enger und enger um ihren Kopf zusammen.
»Eins solltest du wissen.« Der Inquisitor wandte sich von ihr ab. »Indem ich meinem Freund Mytez diesen Gefallen erweise, tue ich etwas, das ich eigentlich nicht tun dürfte. Aber wenn dich eine Patrouille aufgreift — und ich hoffe sehr, dass genau das passiert, solltest du dir einfallen lassen, durch die Stadt zu streifen –, kämst du wie alle anderen ins Gefängnis. Damit geht die Welt noch nicht unter — aber genau das wolltest du ja wohl vermeiden, oder?«
»Ich … ja.« Ywha nickte heftig. »Danke, ich werde nicht …«
»Hätten wir das also geklärt.« Der Inquisitor war es offenbar leid, sich ihre wirren Dankesbekundungen anzuhören. »Hier kommt niemand her, du bist hier absolut sicher. Verhalte dich also bitte ruhig, Ywha. Bis später.«
»Auf Wiedersehen«, presste sie heraus.
An der Fensterscheibe, die seit Langem nicht geputzt worden war, rannen die letzten Tropfen des Regens herunter. Sie lehnte die heiße Stirn gegen das Glas und beobachtete, wie der Mann in dem langen dunklen Mantel das Haus verließ. Ohne jede Hast durchquerte er den kleinen, tristen Innenhof. Obwohl sein krokodilgrünes, extravagantes Auto wie ein Gast wirkte, der sich zufällig in diese Gegend verirrt hatte, lockte er die kleine Kinderschar nur kurz von ihrer Schaukel weg. Sobald die Kleinen ihre Neugier befriedigt hatten, kehrten sie zu ihrem Vergnügen zurück. Offenbar hatte Klawdi Starsh vor diesem bescheidenen Haus nicht zum ersten Mal seinen nicht ganz so bescheidenen Graf geparkt. »Ja, in gewisser Weise gehört mir diese Wohnung auch.«
Die Stille in den leeren Räumen legte sich schwer auf sie. Ywha stand am Fenster, sah dem abfahrenden Auto nach, seufzte, zog die verstaubte Gardine vor, umrundete auf Zehenspitzen den Sessel und spähte durch die schmale Tür ins Schlafzimmer.
Natürlich!
Was war sie doch für eine Idiotin! Eine Vollidiotin geradezu! Wie waren die Hausschuhe einer Frau denn wohl sonst zu erklären?!
Angewidert starrte Ywha auf die eigenen Füße. Anschließend richtete sie den Blick noch einmal auf das riesige Doppelbett, das zwei Drittel des engen Schlafzimmers einnahm.
Ein einsamer, alleinstehender Mann, ohne jede Beziehung. Auf dem Gipfelpunkt seiner Karriere, ganz oben auf der gesellschaftlichen Leiter angelangt, wird er seine — pardon! — Weiber nicht in seine offizielle Wohnung am Platz des Siegreichen Sturms mitschleppen. Natürlich verfügt er über ausreichende finanzielle Mittel, um für seine Rendezvous eine kleine Wohnung zu unterhalten, ein Mittelding aus Privatbordell und Hotel.
Ywha seufzte. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, setzte sich und ließ den Hinterkopf gegen die weiche und staubige Lehne des Sessels fallen. Ihre Gedanken, in denen es bis eben nur für bittere Überlegungen bezüglich der Unmöglichkeit einer Flucht Raum gegeben hatte, nahmen unvermutet eine völlig neue, nicht ganz angemessene Richtung.
Vielleicht sollte sie auch mal in den Schrank schauen? Oder unters Bett? Dort fände sie ja womöglich einen Kamm, den eine der Damen vergessen hatte. Mit zwei langen, verknoteten Haaren zwischen den Zinken. Und auf dem Regal im Bad dürfte mit Sicherheit ein alter, vor Urzeiten verloren gegangener teurer Lippenstift liegen, an dessen perlmutternem Körper sich noch die Spuren eines fremden Mundes erkennen ließen. Ja, vielleicht fand sie sogar Wäsche, halbtransparent und achtlos in den Schrank gestopft.
Voller Verachtung presste sie die Lippen aufeinander. Wie pervers ein solches Leben doch war! Ein Mann, der Zufallsbekanntschaften aufgabelte! Ekelhaft! Allerdings: So zufällig dürften sie wohl nicht sein, diese Bekanntschaften. Schließlich würde der Großinquisitor ja wohl kaum seine Gesundheit oder seinen guten Ruf riskieren. Ob ihm sein Büro die Frauen besorgte?
Ywha verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Verfaultes gebissen. Warum zerbrach sie sich eigentlich darüber den Kopf? Über all diese Schweinereien, die sie selbst im schlimmsten Fall nicht zu interessieren brauchten? Und im besten Fall existierten sie, diese Schweinereien, nur in ihrer Phantasie.
Womit allerdings auch ihre Phantasie einigermaßen versaut wäre. Aber schließlich handelte es sich bei ihr ja auch um eine junge, versaute Hexe! Wie weit ihre Phantasie wohl gehen würde?
Möglicherweise holte er sich in dieses Bett sogar ausschließlich junge, versaute und frisch geschnappte Hexen?
Kurz fühlte sich Ywha so unbehaglich, als säße sie auf Nägeln. Dann schob sich das undurchdringliche, an eine Panzertür erinnernde Gesicht des Inquisitors wieder vor ihr inneres Auge. »Indem ich meinem Freund Mytez diesen Gefallen erweise, tue ich etwas, das ich eigentlich nicht tun dürfte.«
Puh, gestelzter ging es ja wohl kaum! Im Klartext hieß das: Er machte sich überhaupt nichts aus ihr. Ihre Vorzüge — sowohl die der Hexe als auch die der Frau — ließen ihn völlig kalt. Vielleicht stand ihm ja ohnehin nur sehr selten der Sinn nach einer Frau. Womöglich hatte er von solchen wie Ywha aber auch an jedem Finger zehn!
Sie fühlte sich erleichtert — und prompt auch ein wenig beleidigt. Für wie großartig hielten sie sich eigentlich, diese Herren Inquisitoren?!
Plötzlich erschauderte sie. »Gestern habe ich den ganzen Tag nichts anderes gemacht, als Frauen zu foltern, Ywha. Und die öffentliche Meinung, momentan vertreten durch dich, billigt das offenbar.«
Alle Müdigkeit der letzten Tage, die Last der durchwachten Nächte, legte sich ihr auf die Schultern und presste sie in den weichen Sessel. Nein, daran sollte sie jetzt besser nicht denken. Das stieß sie weg, das musste sie wegstoßen.
Mit aller Kraft erhob sie sich und humpelte ins Bad. Auf dem Regal lag kein Lippenstift. Ywha grinste schief. Wie naiv moderne Kosmetik doch war! Vermutlich versteckte sie sich unterm Schrank und glaubte, da fände sie niemand.
Sie klatschte sich warmes Wasser in die Augen. Eine Weile lang blieb sie stehen, um ihr graues Gesicht in dem ovalen Spiegel zu mustern. Hopfen und Malz waren da verloren. Sie tapste ins Schlafzimmer, wo sie sich angezogen auf die Bettdecke legte.
Kurz vorm Einschlafen meinte sie einen Mann im offenen dunklen Mantel zu sehen, der neben dem Bett stand. Ywha schrie auf und setzte sich hoch, um auf die leere Türfüllung zu starren.