»Helena, haben Sie ihnen denn nicht gesagt, dass sie sich registrieren lassen müssen?«
Die Frau hüllte sich in Schweigen.
»Wie viele der zehn sind schon registriert?«
»Zwei.« Die schmalen Lippen bewegten sich kaum.
»Helena? Was erwarten Sie jetzt eigentlich von mir?«
Langsam erhob sich die Frau. Voller Mühe, aber dennoch graziös, ja, sogar stolz. »Klawdi …« Sie trat an den Tisch heran. Es war der Schritt eines Opfers, das freiwillig ins Messer läuft, denn die Verringerung des Abstands brachte ihr neue Schmerzen ein. »Gestatten Sie mir, Sie so zu nennen … Das sind besondere Kinder, Klawdi. Sie …« Helena warf den Kopf in den Nacken. »Im Theater gibt es anderthalb Dutzend Hexen. Sie alle sind registriert, darauf achte ich genau … Aber dies hier sind Jugendliche. Ihnen tut das besonders … weh. Einige von ihnen wissen noch nicht einmal selbst … dass sie Geächtete sind. Dass sie Monster sind. Dass ihr einziges Zuhause, in dem man sich nicht von ihnen abwendet, ihre Schule, ihr Theater, ihr Nest ist … Jetzt sind sieben von ihnen verhaftet worden … Das traumatisiert doch alle. Schließlich verstehen sie nicht einmal, warum man das mit ihnen macht. Eine hat man nicht mitgenommen. Sie wartet jetzt auf ihre Verhaftung. Seit vierundzwanzig Stunden hat sie nichts gegessen …« Als sie einen weiteren Schritt nach vorn machte, verzerrte Schmerz ihr Gesicht. »Ich flehe Sie an. Verbrennen Sie mich von mir aus acht Mal. Aber lassen Sie die Kinder frei, es trifft sie keine Schuld, sie leben nur fürs Ballett, ohne sie wird das Theater eingehen …«
»Zurück, Helena.« Klawdi schloss die Augen. »Das ist nicht nötig. Gehen Sie zurück.«
Die Frau wich zurück. Sie setzte sich wieder in den Sessel, fiel nicht hinein, sondern nahm Platz. Unter Beibehaltung ihrer Würde.
»Ich bin kein Henker«, erklärte Klawdi tonlos. »Oder haben Sie diesen Eindruck?«
Die Frau wollte etwas erwidern, unterließ es dann aber.
»Helena … jede unregistrierte Hexe stellt gegenwärtig eine Gefahr für unser Leben dar. Einzelheiten darf ich Ihnen nicht mitteilen, aber … die Zustände, die Sie mir für Ihre Schule schildern, sind illegal. Insofern trifft Sie selbst die Schuld an der Traumatisierung Ihrer Mädchen. Sie hätten sie … Aber das wissen Sie genau.«
»Ich weise meine Schuld gar nicht von mir.« Die geröteten Augen der Frau funkelten. »Ich bin auch bereit, dafür zu zahlen … aber nicht auf ihre Kosten.«
»Auf wessen dann? Auf meine? Auf Kosten völlig unschuldiger Menschen? Wie soll ich denn, bitte schön, für die Einhaltung der Gesetze sorgen, wenn ich diejenigen, die sie missachten, nicht bestrafe?«
Die Frau sagte kein Wort. Klawdi beobachtete, wie aus ihrem Gesicht nach und nach all die Röte wich, die es während ihres engagierten Auftritts überzogen hatte. Zusammen mit ihr wich auch jede Hoffnung.
»Der Ausnahmezustand wird …«, er bedeckte den Füller mit der Handfläche, »… vermutlich noch fünf Tage dauern. Falls sich die Lage in dieser Zeit stabilisiert, dann … Kurz und gut, ein Großteil der nicht initiierten Hexen wird sich so oder so bald wieder in Freiheit befinden. In fünf Tagen haben Sie Ihre Schülerinnen zurück. Und ich will hoffen, dass Ihnen dieser Fehler nicht noch einmal unterläuft. Haben wir uns verstanden?«
»Mein Inquisitor …« Die Frau blickte ihn traurig und streng an. »Ich … bin nicht initiiert. Aber meine Erfahrung … Vielleicht könnte ich Ihnen bestimmte Informationen zukommen lassen, die für Sie von Interesse sind. Im Gegenzug für … schlichtes Mitleid. Mit unseren Kindern.«
Eine ganze Weile schwieg Klawdi. Die Frau senkte den Kopf wieder.
»Wollen Sie mit mir handeln, Helena? Sie? Mit mir? Eine Frau, die ich so respektiere. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?«
»Sie haben alles richtig verstanden.« Die Frau blickte an ihm vorbei. »Der Ausnahmezustand geht … auf unerklärliche Veränderungen zurück, zu denen es in der Hexengemeinschaft gekommen ist. Eine verstärkte Aktivität. Auf ihre Aggressivität und den Zuwachs an Initiationen. Neue Hexen von enormer Kraft … lassen eine seltsame, im Grunde sogar unnatürliche Solidarität erkennen. Ist es nicht so?«
Klawdis Gesicht blieb undurchdringlich, doch diese vermeintliche Gleichgültigkeit kostete ihn gewaltige Anstrengungen.
»Ich bin nicht initiiert. Trotzdem bin ich eine Hexe, mein Inquisitor. Und ich bin eine durchaus belesene Hexe. Ich habe eine Vermutung, von der ich glaube, dass sie der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Sie können mir natürlich sagen: Kein Bedarf, das weiß ich selbst … Dann werde ich beschämt gehen. Aber falls … falls Ihnen meine Überlegungen von Nutzen wären, warum sollten Sie dann nicht davon profitieren? Vor allem, da … sie aus reinem Herzen kommen und … nur unserer … guten Beziehung geschuldet sind. Das schwöre ich.«
»Helena«, wiederholte Klawdi nachdrücklich und kratzte sich den Mundwinkel. »Die letzte Ballettpremiere soll bei den Zuschauern wahre Begeisterungsstürme ausgelöst haben. Stimmt das?«
»Die Störche«,flüsterte die Frau. »Die herrlichen Störche … Wie viele Karten brauchen Sie? Für wann?«
»Helena, wenn an meiner Stelle ein anderer Mann säße … und sei es nur mein Vorgänger … wissen Sie, was er mit Ihnen täte?«
»Ihm hätte ich nicht gesagt … was ich Ihnen sage.«
»Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?«
Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. »Wahrscheinlich schon, mein Inquisitor.«
Einen Moment lang sahen sie sich unverwandt in die Augen.
»Sagen Sie es mir, Helena.«
Die Frau sog die Luft scharf ein, bis das schwere Goldmedaillon im Ausschnitt des schwarzen Seidenkleides zitterte. »Die Mutterhexe. Hexen sind von Natur aus Einzelgängerinnen … Das gibt ihnen … besser gesagt, den Menschen, die Möglichkeit einer Koexistenz mit ihnen … wobei Krieg und bewaffnete Neutralität einander ablösen. Hexen sind eine Wolke aus einzelnen Wespen. Aber sobald die Mutterhexe auftaucht, ändert sich das. Dann wird aus der Wolke eine Familie. Ein einziger starker Organismus mit einer Vielzahl von Stacheln. Ein Schwarm … dann lässt sich der Krieg nicht mehr vermeiden … der grausam werden wird. Aber wenn man die Mutterhexe tötet, kommt alles wieder ins Lot.«
Helena Torka holte tief Luft. Klawdi griff nach den Zigaretten, kämpfte einige Sekunden mit der Etikette, um sich, diese doch ignorierend, am Ende schweigend eine anzustecken.
Die Frau lächelte verkrampft, kramte ihrerseits eine glänzende Schachtel aus der Tasche, klickerte mit dem Feuerzeug und zündete sich ebenfalls eine an. Sofort beruhigte sie sich wieder. Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig, nahm einen milderen Ausdruck an, und auf ihre Wangen kehrte eine zarte Röte zurück.
»Auch ich liebe … die alten Handschriften.« Klawdi beobachtete sein Gegenüber durch die sich langsam auflösenden Rauchschwaden. »Diese alten Manuskripte, die schaurigen Geschichten … Ihrer Ansicht nach handelt es sich bei der Entdeckung der Wespen, also nicht um eine Fälschung?«
»Da bin ich mir ganz sicher.« Die Frau schloss kurz die Augen. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Was Sie damit anfangen, müssen Sie selbst entscheiden.«
Klawdi erwiderte kein Wort. Er rieb sich das Kinn und tat einen tiefen Zug. »Ihre … Überlegungen haben nicht den Wert, den Sie mir angedeutet hatten. Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen müssen. Natürlich bin ich keine Hexe … aber ich weiß wesentlich mehr. Bedauerlicherweise.«