In den Archiven der Inquisition — Räumen mit konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit — lagen alte Bände, die bei der geringsten Berührung zu Staub zu zerfallen drohten. Fotokopien dieser Bücher standen Klawdi zum täglichen Gebrauch zur Verfügung. Leider wog die künstlerische Bedeutung dieser versponnenen Texte jedoch stärker als ihr Erkenntniswert. Moderne Untersuchungen in Form wortreicher philosophischer Abhandlungen und grausamer Chroniken voller Details, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, gaben keine neuen Antworten. Zumindest nicht für Klawdi. Früher hatte er selbst einmal in diesem Bereich geforscht, damals, als er noch als Kurator in Egre, der Hauptstadt des Weins, gearbeitet hatte.
Das gelbe Telefon, dem eine Wählscheibe fehlte, schrillte los. Klawdi verzog das Gesicht, als beiße er auf etwas Saures.
»Zu so später Stunde noch auf Frontposten?« Die Stimme des Herzogs klang entgegen seiner Gewohnheit recht wohlgeneigt.
»Ich lese ein paar Bücher, Eure Hoheit. Um mich zum wiederholten Mal davon zu überzeugen, was für Narren wir doch sind.«
Der Herzog ging jedoch mit keinem Wort darauf ein, sondern ließ dem Inquisitor die Bemerkung als Scherz durchgehen. »Man darf Ihnen wohl gratulieren, Herr Großinquisitor?«, meinte er schließlich. »Offenbar sind selbst die schlimmsten Hexenhasser zufrieden gestellt.«
»Von mir abgesehen, Eure Hoheit. Aber ich war auch nie ein ausgesprochener Hexenhasser.«
»Ihnen dürfte bekannt sein, dass bereits Stimmen laut werden, die die Verletzung der Bürgerrechte beklagen.«
»Den Hexen sind die Bürgerrechte bereits mit der ersten entsprechenden Gesetzessammlung in unserer Geschichte entzogen worden.«
»Sie haben eine bissige Zunge, Klawdi.«
»Das stimmt, Eure Hoheit.«
»Achten Sie darauf, dass die Repressionen gegen die Hexen nicht … niemanden anders treffen. Ich will, dass im Land endlich wieder Ruhe einkehrt.«
»Das wollen wir alle.«
»Wie … wie heißt es doch gleich bei Ihnen? Nieder mit dem Abschaum?«
»Nieder mit dem Abschaum, Eure Hoheit.«
Ein kurzes Tuten. Klawdi legte den gelben Hörer auf die Gabel.
An beiden Ausgängen des Palasts drängten sich Menschen, hauptsächlich ältere Frauen. Keine Demonstranten, sondern Besucherinnen, die den einfachen Angestellten nicht trauten und deshalb den Großinquisitor persönlich zu sprechen wünschten. Klawdi biss die Zähne zusammen. Warum half er nicht auch diesen unglücklichen Müttern, deren Töchter das Pech gehabt hatten, als Hexen in eine ganz normale Familie geboren zu werden — wo er Helena Torka doch so entgegengekommen war?
Wer wohl Ywhas Eltern sind?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Oder besser, wer waren sie? Denn es wäre doch seltsam, wenn ihre Eltern sie so durch die Welt ziehen ließen, den schmalen Grad zwischen Initiation und Gefängnis entlang.
Er verließ den Palast durch eine dritte Tür, die unterirdisch und geheim war. Innerlich leistete er den geduldig wartenden Menschen Abbitte und stieg in seinen Dienstwagen; fünfzehn Minuten später traf er im Halbdunkel seines Hofes auf einen Mann.
Nur selten kamen Bittsteller hierher — es sei denn, sie waren sehr verzweifelt.
Die dunkle Figur trat auf ihn zu und versperrte ihm den Zugang zum Haus. Klawdi dachte an den Bodyguard im Auto und hob den Arm, um einen Schuss zu verhindern. Dem Mann, der dort vor dem Haus gewartet hatte, jagte die abrupte Geste eine Heidenangst ein. »Klawdi …« Er stolperte zurück.
Was denkt er sich eigentlich dabei?, knurrte Starsh innerlich. Versteckt sich hier im dunklen Hauseingang! Gut, nicht in böser Absicht, sondern einzig und allein aus Dummheit.
»Hallo, Nasan Gehen wir rein.«
Alle Fenster der winzigen Wohnung standen weit offen, im Hof kreischten Kinder und zwitscherten Vögel. Ein Junge auf einem Fahrrad rief wieder und wieder nach seiner Freundin Ljura.
»Was dann folgte? Dann habe ich ihm eine geschlagene Stunde einen Vortrag zum Thema ›Die nicht initiierte Hexe. Familie, Recht und Alltag‹ gehalten. So leid es mir tut, aber Nasar ist in dieser Angelegenheit erstaunlich inkompetent. Ich habe seine Wissenslücken, so gut es mir möglich war, gestopft.«
»Ljura-a!«, rief der Fahrradfahrer weiter stur. »Kommst du raus?«
Ywha beobachtete den Inquisitor, der Kaffee trank und rauchte. Der Luftzug trieb die graublauen Rauchfäden zum Fenster.
»Ljura-a!«
»Und … was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt: Danke.«
Bedauernd machte sich Ywha klar, dass sich all ihre Gefühle auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Selbst die, die sie verbergen wollte.
»Auch ich bin … erstaunlich inkompetent. In puncto nicht initiierter Hexen. Früher habe ich zum Beispiel angenommen … dass eine solche Hexe, wenn sie sich nur versteckt, nicht entdeckt werden kann. Von niemandem.« Sie sah ihr Gegenüber fast herausfordernd an.
»Das Unglück besteht darin«, erklärte Klawdi seufzend, »dass eine Hexe, selbst eine nicht initiierte, nun einmal eine Hexe bleibt. Sogar dann, wenn sie niemandem etwas zuleide tut. Sogar dann, wenn sie überhaupt nichts tut. Denn sie könnte etwas anrichten. Das ist der Punkt, an dem sich die Gesetzesväter schon seit Jahrhunderten die Zähne ausbeißen … und auch diejenigen, die die Gesetze in die Praxis umsetzen. Wenn sich ein Mensch nichts hat zuschulden kommen lassen — wofür wollte man ihn dann bestrafen? Allein für die Möglichkeit, dass er in Zukunft etwas Böses tun könnte?«
»Aber … diese Möglichkeit … wie hoch ist sie eigentlich?« Ywha spürte, wie ihre Kehle immer stärker austrocknete.
»Zweiundsechzig Prozent«, teilte ihr der Inquisitor mit gelangweilter Stimme mit. »Achtunddreißig Prozent werden nie initiiert. Die erliegen der Versuchung nie. Sie leben ein langes, glückliches Leben und haben viele Kinder. Normalerweise sind Hexen nämlich sehr fruchtbar. Und um ihre Gesundheit kann man sie nur beneiden. Häusliche Pflichten vernachlässigen sie völlig, dafür erzielen sie unglaubliche Erfolge in allen Künsten. Sie sind intelligent und ausgesprochen eigen … All das habe ich Nasar gesagt, das kannst du mir glauben. Ich habe sogar übertrieben.«
»Aber wie kriegt man raus …«, Ywha hob den Blick, »… wie kriegt man raus … in welche Kategorie eine Hexe fällt … ob sie zu den Zweiundsechzig oder zu den … Achtunddreißig Prozent gehört?«
»Ljura-a!« Der Junge ließ nicht locker. »Lju-ura! Du sollst rauskommen!«
Der Inquisitor erhob sich, doch da es in der winzigen Küche keine Fluchtmöglichkeit gab, setzte er sich wieder, wenn auch auf das breite Fensterbrett. Die noch nicht ausgetrunkene Tasse Kaffee stellte er neben sich. »Das hat mich Nasar auch gefragt. Fast mit denselben Worten: Im Grunde habe ich ihm das alles schon damals erzählt … äh … als du weggelaufen bist. Aber offensichtlich war er da zu erschüttert, als dass er etwas davon behalten hätte.«
»Ljura-a!«
Der Inquisitor lehnte sich zum Fenster hinaus. »Wenn du nicht gleich rauskommst, kriegst du Ärger, Ljura!«, drohte er mit der Stimme eines Bühnenschurken.
Der fliehende Fahrradfahrer schepperte über die Steine. Offenbar bekam es der junge Herr Verehrer mit der Angst zu tun.
»Das«, meinte der Inquisitor grinsend, »würde ich auch gern wissen, Ywha. Damit ich die Unschuldigen nicht ins Gefängnis stecke und den bösen Hexen nicht die Freiheit schenke. Aber es ist praktisch unmöglich, das zu bestimmen. Es hängt von verschiedenen Umständen ab, von den persönlichen Anlagen, die sich meist nicht vorher erkennen lassen. Ein ruhiges Familienleben mit einem geliebten Mann fördert das Gute in einer Hexe und verhindert meist, dass sie gegen das Gesetz verstößt. Es stellt jedoch keine Garantie dar. Verstehst du das?«