»Gehen wir, Klaw …«
Von ihren Augen, so schien es ihm, ging ein weitaus stärkeres Licht aus als von den Laternen, die im Nebel ertrunken waren. Wie hypnotisiert hielt er auf dieses Licht zu.
»Gehen wir …« In Djunkas Stimme schwang ohne Frage Ungeduld mit.
Gehorsam folgte er ihr, über die unerwartet hohen Bahnschwellen hüpfend und kletternd. Er versuchte, die Schienen zu meiden, die rutschig wie vereiste Rippen waren. Das ferne Geräusch des Zuges kam nicht näher, entfernte sich jedoch auch nicht. Ein trübes Licht, das vor ihm aufschimmerte, veränderte mit zartem Knirschen seine Position, folglich stellten sich gerade die automatischen Weichen um.
Klaw sah Djunka nicht mehr, spürte jedoch ihre Anwesenheit: etwas weiter vorn.
Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Augen hoben sich deutlich von der Dunkelheit ab. »Klaw … ich … dich …«
»Ich dich auch«, erwiderte er rasch. »Ich liebe dich, Djun … Was ist das?!«
Drei weiße Augen, vom Nebel leicht getrübt, tauchten aus dem Nichts auf. Genauso wie aus dem Nichts ein Donnern losbrach. Dem fast sofort ein Pfiff folgte, der Klaws Inneres in einen einzigen zitternden Klumpen verwandelte.
Zu viel Zeit verschwendete er an die Frage, ob er sich nach links oder rechts werfen sollte. Die Diesellok ragte mit einer turmhohen, dunkelroten Schnauze über ihm auf, die zwei phosphoreszierende orangefarbene Streifen zierten, ein breiter und ein schmaler. Klaw meinte in der Mitte der Eisenfratze das runde Logo der Herstellerfabrik zu erkennen. Wie ein Eisenbart reckte sich das Gitter vor. Gleich würde der Körper eines Menschen fallen und unter dieses Gitter geraten, unter diesen donnernden, sämtliche Knochen zermahlenden Bauch …
Der allgegenwärtige Nebel. Kein einziger Stern leuchtete.
Er lag auf dem Bauch, mit beiden Händen in den vertrockneten Sträuchern des Vorjahrs verhakt. Zehn Zentimeter neben ihm donnerte Eisen über Eisen. Und zwar so, dass die Erde synchron mit dem auf ihr liegenden Menschen bibberte.
Es war ihm gelungen, seinem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen — falls es denn überhaupt das Schicksal gewesen war, das ihm da in Gestalt eines schweren, hinterrücks aufgetauchten Güterzugs begegnet war.
Zu der älteren Frau im Arztkittel gehörte ein Durchschnittsgesicht, das niemand im Gedächtnis behielt. Lange ließ sie den Blick zwischen der zerbrochenen Scheibe des Autos und Ywhas geschwollenem Gesicht hin- und herschweifen. »Brauchen Sie Hilfe? Hatten Sie einen Unfall?«
»Vielen Dank, Frau Sat. Dem Mädchen geht es bereits besser. Sorgen Sie bitte dafür, dass der Posten am Eingang die Papiere aller überprüft, die aufs Gelände fahren.«
»Aber, Patron, er hat Sie doch erkannt …«
»Setzen Sie ihm bitte auseinander, dass er von allen Papiere zu verlangen hat. Von absolut allen. Ich gehe jetzt nach unten, das Mädchen kommt mit. Wir brauchen einen Begleiter, mit Schlüsseln.«
»Ich könnte selbst …«
»Wenn es keine Umstände macht.«
Es dauerte etwa drei Minuten, bis die Frau dem Safe ein klirrendes Schlüsselbund und einem hohen Schrank zwei weiße Kittel entnommen hatte. Der gestärkte Stoff roch scharf nach Desinfektionsmittel. Mit aufeinandergepressten Zähnen krempelte Ywha die zu langen Ärmel um.
Im Gang nahm der Geruch noch zu. Von klein auf hasste Ywha den typischen Krankenhausgeruch. Genau wie das Streulicht der weißen Neonröhren, die Blumenkübel mit den unnatürlich grünen Pflanzen und das funkelnde, auf Hochglanz polierte Linoleum.
»Ist das ein Krankenhaus?«
»Ja. Ich werde dir nachher auch noch genauer erklären, was für eins.«
Eine weitere Schmerzwelle ergoss sich in ihren Kopf. Ywha hielt es nicht mehr aus und presste die Hand gegen die Schläfe. Am Ende des Ganges lag eine Treppe, die nach unten führte. Zwei junge Männer in Kitteln, die an ihren kräftigen Schultern spannten, wirkten gleichermaßen bedrohlich und locker. Beim Anblick der Frau mit den Schlüsseln warfen sich beide in Positur, beim Anblick des Inquisitors nahmen sie sogar eine stramme Haltung an.
»Die Stufen hier sind steil, halt dich an mir fest.«
Gehorsam hakte sich Ywha bei ihm unter. Im ersten Augenblick glich die Berührung abermals einem leichten Schlag oder schwachen Elektroschock. Das war im Grunde gar nicht so unangenehm, sogar ein wenig beruhigend.
Die Frau sperrte erst eine Tür auf, dann noch zwei weitere. Hier gab es einfach zu viele Schlösser. Verdächtig viele. Allzu grell blitzte eine vernickelte Klinke auf. Und selbst die Pflanzen in ihren Kübeln rochen nach Desinfektionsmittel.
Der nächste Gang stellte sich als kurz und fensterlos heraus und mündete in eine Wand. Rechts und links gingen Türen ab, die Ywha gar nicht erst zählte. Jede von ihnen verfügte über ein kleines verschlossenes Guckloch. Das Ganze erinnerte verdammt an ein Gefängnis. Ywha erschauderte.
An einer der Türen hob die Frau die Sichtschutzblende. Nachdem sie hineingespäht hatte, blickte sie den Inquisitor fragend an.
»Öffnen Sie bitte«, sagte dieser.
Lautlos ging die Tür auf — als ob es sich nicht um eine schwere Panzertür handelte, sondern um eine schlichte Schlafzimmertür. Die Angeln mussten gut geölt sein.
»Komm her, Ywha.«
»Ich will nicht.«
»Sieh dir das an, das ist notwendig.«
Er fasste sie bei den Schultern und schob sie vor die Tür. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln war hier noch stärker, darüber lag jedoch noch ein anderer, ein widerlicher Beigeruch. Abgestanden war die Luft, wie im Zimmer eines Schwerkranken.
Der Raum wirkte so groß wie ein Ballsaal — und ebenso leer, sah man einmal von den fünf, nein, sechs Betten ab, die sich an der Wand reihten. Unter grauen Decken zeichneten sich gekrümmte Körper ab. Auf weißen Kissen ruhten rasierte Köpfe. Ein Bett war leer, darin gab es nur eine gestreifte Matratze.
»Gehen wir rein.«
Unbewusst krallte sich Ywha in den Arm ihres Begleiters. »Wer … sind die?«
»Sieh sie dir an.«
Fünf Frauen lagen in gleicher Stellung da, die Knie vor den Bauch gezogen. Alle fünf hatten große, offene, stumpfe und wahnsinnige Augen. Keine von ihnen reagierte in irgendeiner Form auf die Besucher. Auf den halb geöffneten Lippen schimmerte Speichel.
»Hab keine Angst, Ywha.«
»Darf ich wieder gehen?«
»Ja. Gehen wir.«
Die Frau erwartete sie im Gang.
»Das und das brauchen wir nicht«, erklärte der Inquisitor, in Richtung der entsprechenden Türen nickend. »Dahinter erwartet uns der gleiche Anblick. Aber die Tür öffnen Sie bitte, Frau Sat. Ich möchte dir jemanden vorstellen, Ywha.«
Das Zimmer war wesentlich kleiner. In einer Art Zahnarztstuhl saß eine kahl rasierte Frau mit offenen Augen und entrücktem, irgendwie verschwommenem Gesichtsausdruck. Im ersten Moment glaubte Ywha, die Frau behalte die Eintretenden fest im Blick; tatsächlich nahm sie jedoch überhaupt nichts wahr. Die himmelblauen Augen wirkten wie geschliffenes Glas. An den schmalen Schultern hing ein formloses, dunkles Kleid. Auf dem rasierten Schädel saß eine schwarze Mütze.
»Guten Tag, Tyma«, sagte der Inquisitor. In seiner Stimme schien echte Zärtlichkeit zu liegen. »Das ist Ywha.«
Die Insassin antwortete nicht. Kraftlos lagen ihre Hände auf den Armlehnen. Schöne Hände hatte sie, mit schlanken Fingern und kurz geschnittenen Nägeln.
»Das ist Tyma Leus«, erklärte der Inquisitor sachlich. »Sie ist Neurochirurgin. Die einzige mir bekannte Hexe, die es geschafft hat, zu studieren und wissenschaftliche Erfolge zu erzielen.«