Выбрать главу

Gehorsam blickte Ywha auf den Teller. Lustlos spießte sie mit der Gabel ein bereits abgekühltes Stück Huhn auf, erinnerte sich daran, dass sie eigentlich gar nichts hatte bestellen wollen, seufzte mehrmals und legte das Besteck weg. »Und heute bin ich … auf Ihr Geheimnis gestoßen? Was hat das für mich für Konsequenzen?«

»Gar keine.«

»Ich wollte, ich könnte das glauben.«

»Ywha, hast du … Industriedesign studieren wollen? Oder hast du einfach einen Ausbildungsplatz gebraucht?«

Sie stellte das hohe Weißweinglas, das sie in der Hand hielt, auf dem Tisch ab. »Am Anfang wollte ich gern … Designerin werden. Aber dann …«

»… hast du es dir anders überlegt?«

Ywha hüllte sich in Schweigen und wandte den Blick ab. »Sagen Sie mir ganz ehrlich … hat Nasar mit mir Schluss gemacht?«

»Nein.«

»Ich habe immer geglaubt … wenn ein Mensch … also wenn er jemanden liebt … ist er auch in der Lage … zu verzeihen.« Sie holte Luft. »Zum Beispiel einer Hexe, dass sie eine Hexe ist.«

»Wenn du das wirklich glaubst, hättest du es Nasar sagen sollen.« Der Inquisitor suchte auf dem Tisch nach einem Aschenbecher.

Ywha brachte kein Wort heraus. »Sie machen mir das Leben nicht gerade leicht. So oft sagen Sie Sachen, die ich nicht hören will.«

(Djunka. April)

Seit knapp drei Monaten hatte er das Grab nicht besucht. Und seit seinem letzten Besuch hatte sich dort viel verändert. Die hölzernen Blumentöpfe mit den welken Winterpflanzen waren verschwunden, ein matter schwarzer Stein war aufgestellt worden, mit einem Flachrelief in der rauen Vorderseite. In der Nacht hatte es geregnet, also war Dokijas Gesicht feucht und wirkte seltsam lebendig. Klaw glaubte sogar, auf ihren Schultern würden ein paar Strähnen wippen, aber natürlich war dem nicht so. Der Steinmetz hatte nach einem alten Foto von Djunka gearbeitet, auf dem die Haare, ein wenig lockig und ganz trocken, zu einer prachtvollen festtäglichen Frisur hochgesteckt waren.

Klaw empfand eine Art Reue. Seit dem Tag der Beerdigung hatte er niemanden aus ihrer Familie aufgesucht. Saß der Schmerz, den ihm die Worte ihrer Schwester zugefügt hatten, so tief?

»Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Dokija geliebt hat.«

Das stimmte. Er wollte seinen Kummer nicht teilen. Djunka sollte nur ihm gehören.

Jetzt stand er vor dem gepflegten Grab, betrachtete die steinerne und dennoch unangenehm lebendige Djunka und versuchte mit aller Gewalt, eine aufdringliche, unbarmherzige Frage wegzuscheuchen.

Was, wenn unter dem Stein …

Lag sie dort? Oder war das Grab leer?

Und wenn sie dort lag?!

Der Tag war erstaunlich kalt, seltsam kalt für den Frühling. Fröstelnd schlang sich Klaw die Arme um die Schultern und sprang herum, um die Feuchtigkeit loszuwerden, die aus der Erde in die Schuhe kroch.

Diese Diesellok würde er bis an sein Lebensende nicht vergessen. Selbst über die Schienen einer Straßenbahn würde er nie wieder gehen. In allen parallel nebeneinander gezeichneten Linien würde er fortan Gleise sehen — die ihn jedes Mal erzittern lassen würden.

Wo war Djunka? Hier, unter dem schwarzen Stein? Oder dort, in der fest verschlossenen, stickigen kleinen Wohnung? In die er, ob er wollte oder nicht, zurückkehren musste.

Drei Tage lang lastete nun schon dicker, undurchdringlicher Nebel über dem Boden, der alle Geräusche schluckte.

Ein unglücklicher Zufall war unangenehm. Zwei unglückliche Zufälle waren …

Warum sollte es eigentlich nicht zwei solcher Zufälle hintereinander geben? Wie viele Menschen sterben jährlich unter den Rädern eines Güterzugs oder einer Eisenbahn? Vor allem im Nebel. Oder betrunken.

Klaw kratzte sich den Kopf. Gestern, nachdem er ins Wohnheim zurückgekommen war, hatte er wortlos eine ganze Flasche Kognak getrunken, die ursprünglich für ein Fest gedacht gewesen war. Juljok Mytez, der ihn mit der leeren Flasche erwischt hatte, konnte es nicht fassen. Es tat ihm um den edlen Tropfen leid, aber auch um …

Zu allem Überfluss hatte der Alkohol nicht einmal Wirkung gezeigt. Selbst angetrunken hatte sich Klawdi nicht gefühlt. Gut, seine Beine waren butterweich gewesen, aber sein Kopf war doch beschämend klar geblieben. Unablässig war ihm darin ein einziger Gedanke herumgegangen.

Doch den würde Klaw niemals laut aussprechen. Mehr noch: Der Gedanke an sich schien ihm schon ein Verbrechen zu sein.

Und wenn er sich bei ihrem Ausflug einen angetrunken hatte? Und sich jetzt bloß nicht mehr daran erinnerte? Vielleicht hatten sie, Djunka und er, sich wärmen wollen, als sie am Lagerfeuer gesessen hatten, von innen sozusagen?

Nein. Heute war es kalt, aber als sie den Ausflug unternommen hatten, war es warm gewesen, frühlingshaft und angenehm. Und sein Kopf war auch klar gewesen.

Die steinerne Djunka blickte ihn tadelnd an. Als wolle sie sagen: Das denkst du von mir? Von mir?

»Hast du …«, flüsterte Klaw fast tonlos.

Auf dem schwarzen Stein ließ sich furchtlos eine kugelrunde, fröhliche Meise nieder.

6

Kurz bevor Klawdi den Platz des Siegreichen Sturms er­reichte, blinkte das rote Licht in seinem Auto auf. Der Not­ruf. Klaw hatte es allen untersagt, ihn während einer Fahrt zu benachrichtigen, falls die Sache warten konnte. Manchmal träumte er nachts von diesem roten Lämpchen, wie es sein perfides, stechendes Alarmsignal aussandte.

»Nieder mit dem Abschaum«, erklang die vor Aufregung schrille Stimme des Kollegen aus der Zentrale. »Ein Signal. Von der Gräfin. Ein rotes Signal.«

»Stellen Sie durch«, verlangte Klaw sachlich. »Woher kommt der Anruf?«

»Aus der Oper.«

»Schickt eine bewaffnete Einheit hin. Ich bin in zehn Minuten da.«

Er legte den Hörer nicht auf, sondern warf ihn auf den Beifahrersitz. Mit geschlossenen Augen rief er sich die Karte des Stadtzentrums ins Gedächtnis. Er riss das Steuer herum. Auf dem Rücksitz stöhnte Ywha leise.

Die Gräfin war Helena Torka. Eine Informantin konnte sie per definitionem nicht sein. Klawdi hatte denn auch nie einen Tipp von ihr erwartet. Den Decknamen hatte er ihr bloß so gegeben, der Ordnung halber. Ein rotes Signal von ihr bedeutete, dass sie einen Panikanfall erlitten hatte.

Die junge Frau auf dem Rücksitz sagte kein Wort. Klugerweise enthielt sie sich obendrein jeder Frage.

»Wir fahren in die Oper«, brummte Klawdi.

Die Räder holperten über Kopfsteinpflaster. Kurz darauf folgte wieder Asphalt. Klawdi überholte geschickt erst eine nilpferdgroße Limousine, anschließend einen Laster, dann …

»Ich habe immer gedacht, Sie seien ein schlechter Autofahrer«, flüsterte Ywha.

Klawdi verringerte die Geschwindigkeit, damit die Ampel vor ihm von Rot auf Grün umspringen konnte. Anschließend gab er Gas und huschte zweimal bei Gelb rüber. Schon sahen sie das massive, elfenbeinfarbene Opernhaus im pseudoklassizistischen Stil, dessen Fassade ein kupfernes Stadtwappen schmückte, in voller Größe vor sich. Vorm Haupteingang ballte sich eine Menschentraube. Bis zum Beginn der Abendvorstellung war es noch eine Stunde.

Klawdi widerstand der Versuchung, den Graf unmittelbar vor dem Theater auf dem Gehsteig zu parken, denn das Auftauchen eines vierrädrigen Gefährts hätte hier wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt; es wäre jedoch unklug, vorzeitig für Schlagzeilen zu sorgen — denen sie am Ende sowieso nicht entkommen dürften.

Klawdi hielt am Straßenrand, direkt unter einem Halteverbotsschild, und stellte den Motor ab. Sein Auto war bereits bemerkt worden. Allerdings wäre der grüne Graf wohl auch dann gesehen worden, wenn er auf den Parkplatz vor dem Bühneneingang gefahren wäre. Immerhin hatte er den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite.