Er biss die Zähne aufeinander. Wie viele Hexen es in diesem Haus gab! Initiierte. Aktive. Er wollte einfach nicht glauben, dass so viele Hexen in Freiheit waren, noch dazu an ein und demselben Ort.
»Ich habe Angst«, gestand Ywha hinter ihm.
Sie spürt es ebenfalls, schoss es ihm durch den Kopf, auch wenn sie ihre Gefühle noch nicht zu deuten vermag.
»Warte hier im Auto«, sagte er sachlich. »Oder nein. Komm mit mir mit. Aber bleib an meiner Seite …«
Synchron hielten rechts, links und etwas abseits, auf dem Parkplatz vorm Bühneneingang, drei völlig unauffällige Autos. Klawdi nickte kaum merklich. So sah eine Sondereinheit aus: entweder wie ein Autobus voller Touristen oder wie ein Lieferwagen, der Pralinen fürs Büfett brachte.
Ob er mit seinem Erscheinen vor Ort der alten internen Diskussion, ob ein Großinquisitor persönlich an Einsätzen teilnehmen solle, neue Nahrung gab?
Aber was blieb ihm anderes übrig — wenn dieser Einsatz durch ein rotes Signal von Helena Torka ausgelöst wurde?
Zum Opernensemble gehörte ein halbes Dutzend tauber, also nicht initiierter Hexen. In der Ballettschule waren es zehn. Keine von ihnen war aktiv, zumindest laut Bericht nicht. Woher kamen all die Hexen jetzt also?
Es war wie immer. Die Theaterbesucher warteten bereits eine Stunde vor Vorstellungsbeginn darauf, dass die hohen Türen geöffnet wurden. Alles war wie immer — nur dass sich die Türen nicht öffneten. Im Grunde war selbst das keine Sensation, so etwas kam vor, das nahmen die Besucher hin. Sogar wenn sich eine halbe Stunde vor Beginn nichts tat, murrten sie noch nicht.
»Gehen wir.«
Sie nahmen den Bühneneingang.
»Ihre Papiere, meine Herrschaften?!«, verlangte eine Alte mit faltigem, herrischem Gesicht am Drehkreuz.
»Die Inquisition der Stadt Wyshna.« Klawdi schlug die Manschette zurück und zeigte die funkelnde Dienstmarke. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle.«
Ein Opernhaus ist ein besonderer Ort. Die Alte wusste nur allzu gut, was es mit dem Wort »Inquisition« auf sich hatte, weshalb sie sich sogleich auch schweigend in den Schatten zurückzog.
Ywha rannte neben Klawdi her, der nach jemandem Ausschau hielt, dem er sie überantworten konnte. Der Chef der Sondereinheit war bereits vor Ort, in seinen Augen stand eine unausgesprochene Frage. Ihn interessierte, wer diesen Einsatz leitete.
»Sie«, sagte Klawdi. »Sie können auch über mich verfügen. Das Mädchen … bleibt bei mir. Ich muss sie im Auge behalten.«
Der Leiter nickte. »Dann würde ich Sie bitten, sich der Torka anzunehmen … Patron.«
»Gehen wir.« Klawdi zog Ywha in einen Seitengang. Jetzt kam ihm zupass, dass er sich in weiser Voraussicht mit der Architektur hinter den Kulissen der Wyshnaer Oper vertraut gemacht hatte.
Ywha entriss ihm ihre Hand nicht. Sie ertrug seinen eisernen Griff — und zitterte. Nervös. Das hier war kein Ort für sie. Er hatte sie nicht ohne Aufsicht lassen wollen, aber es wäre auf jeden Fall vernünftiger gewesen, als sie hier mit herzuschleppen, wo es — das witterte er — Unmengen von starken und aktiven Hexen gab. Bislang ging von ihnen jedoch noch keine akute Gefahr aus.
Sie kamen an einer Schar Frauen in Uniform vorbei, an einem dicken Mann, der in einer nicht minder dicken Tasche kramte, an zwei sehr großen Männern in Trikots, die nebeneinander auf dem Fensterbrett saßen. Und an einer Tafel mit Inseraten, einer Treppe, die zum Büfett führte und schließlich an einer Halle mit Teppichen und Ficusbäumen. Eine halb offen stehende Tür, die zum Saal mit den Spiegelwänden wies, in dem Ballettschuhe aufs Parkett klatschten, ignorierte er. Ebenso wie das Dutzend Türen, hinter denen man sich mit gedämpfter Stimme unterhielt, wo man umherlief, lachte und sich beschimpfte. Es folgte ein weiterer Saal, dann blieb Klawdi endlich vor einer polierten Tür mit einer gestrengen Tafel stehen. Er klopfte an, betrat den Raum jedoch sofort, ohne eine Antwort abzuwarten. Ywha stolperte über die Schwelle. Aus unerfindlichen Gründen war sie sich sicher gewesen, dass die Tür verschlossen war.
»Frau Torka!«
Das Vorzimmer war leer. Auf dem Schreibtisch der Sekretärin stand eine Tasse mit Tee, lag eine zerknitterte Quittung mit einem Firmenlogo in der rechten oberen Ecke; zwei Türen gingen von dem Zimmer ab, eine nach rechts, eine nach links. Das Telefon war ausgestöpselt. Ywha roch etwas. Auch Klawdi entging der Geruch von Herztropfen nicht. Ein flüchtiger, bereits verwehter Geruch.
Die Tür rechts. Leer. Hier war die Torka nicht, was Klawdi aber nicht weiter erstaunte; seltsam schien bloß, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte.
Die Tür links.
Ein Damenjackett, über die Lehne eines Schreibtischstuhls geworfen. Durchwühlte Schubfächer des Schreibtischs. Spuren einer brutalen Durchsuchung oder einer sorgfältigen Verwüstung. Ob Helena die Liste mit den Namen der verhafteten Hexen aufgesetzt hatte? Und wenn ja, wo bewahrte sie sie auf?
Das Kabel des Telefons war akkurat abgeschnitten. Daneben lag ein Schlüsselbund mit einem Anhänger in Form einer Hühnerkralle. Er wog schwer in der Hand.
Klawdi überlegte kaum. »Komm her, Ywha.«
Die junge Frau betrat das Büro. Klawdi schubste sie in Richtung Tisch. »Bleib hier. Ich hole dich nachher wieder ab.«
Ihre Augen weiteten sich entsetzt. »N-nein … ich …«
»Es dauert nicht lange.«
Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um. Entgegen seiner Befürchtung fing die Frau weder zu weinen noch zu brüllen an. Kein Wort, kein Seufzer kam über ihre Lippen. Mit einem Mal fühlte er sich unwohl. Als sähe man ihn mit tadelndem Blick an und er wäre nicht imstande, sich wegzudrehen.
»Ich bin gleich wieder da«, teilte er der verschlossenen Tür mit.
Der gewohnte Ablauf im Theater war bereits gestört, durcheinander geraten, überstürzt zu Ende gebracht worden und hatte sich jetzt Gott weiß wohin verzogen. Die Türen zu den Garderoben standen sperrangelweit offen, in allen Ecken ließ sich eine sachliche und betont gelassene Lautsprecherstimme vernehmen: »An alle Angehörigen des Theaters ergeht die Bitte, in den Garderoben zu bleiben. Bleiben Sie bitte in Ihren Garderoben. Die Vorbereitungen für die Vorstellung sind eingestellt. An alle Angehörigen des Theaters ergeht die Bitte, in den Garderoben zu bleiben. Kommen Sie nicht in die Gänge hinaus, bleiben Sie in Ihren Garderoben.«
Der Sprecher war mit der Befehlstechnik offenbar gut vertraut. Zumindest vorläufig gehorchte man ihm. In den Gängen herrschte gähnende Leere, Klawdi lief sie, begleitet von verängstigen Blicken, hinunter. Aus einer Tür blickte eine ältere Dame, die mit beiden Armen purpurrote Mäntel umklammerte, wie sie Schurken trugen. »Junger Mann …«
Als sich Klawdi der Frau zuwandte, prallte diese zurück. Der Inquisitor wusste, dass er, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitete, extrem widerwärtig aussah. Dafür brauchte er nicht einmal einen purpurroten Mantel!
Den Chef der Sondereinheit fand er in einem mit Ankündigungen gespickten Büro. Zwei in einer Ecke kauernde Frauen und ein Mann im Frack beäugten scheu das Funkgerät in den Händen des ungebetenen Gastes.
»Wir haben sie abgefangen, Patron. Die Mädchen. Neun insgesamt. Aus der Abschlussklasse.«
»Sind sie aktiv?«
»Nein, Patron. Sie sind durch die Bank taub. Genau wie im Dossier vermerkt. Die Vorstellung ist abgesetzt. Die Zuschauer werden nicht eingelassen. Wir durchkämmen gerade sämtliche Etagen.«