»Es klagt dich ja auch niemand an. Aber nimm doch mal jemanden mit einer ansteckenden Krankheit … der wird auch bei der Gesundheitsfürsorge registriert. Es macht dir wirklich niemand einen Vorwurf.«
»Ich bin nicht ansteckend!«
Eine Fliege brummte durch den leeren Klassenraum. In Spiralen, Schlaufen und Kreisen. Sie knallte gegen das Fenster, nahm dann ihre Bahnen wieder auf. An der Tafel hing ein Schema des menschlichen Körpers, und die Fliege fing nun an, völlig orientierungslos über die eingezeichneten Gedärme des Menschen zu kriechen.
»Und dann?«
»An dem Abend bin ich abgehauen. Zu meiner Tante. Nach Rydna.«
In dem halbdunklen Café war die Luft graublau vom Tabakqualm. Ein Mädchen weinte, in die Ecke gekauert, in der zitternden Hand eine Mappe, die nicht zugebunden war, deren Schnüre vielmehr lose herabhingen. An die mit grauem Leinen bespannte Tafel kam aufgrund der vielen durchgedrückten Rücken niemand heran. Es roch nach Schweiß und Parfüm, vor allem aber nach Rauch.
»Hast du’s geschafft?«, fragte der junge Mann mit dem braun gebrannten Gesicht, den hohen Backenknochen und dem Dreitagebart. »Hey, Rothaarige … haben sie dich genommen?«
Das rothaarige Mädchen fuhr zusammen. Seit einiger Zeit erschrak sie ständig, wenn sie jemand ansprach. »Ich bin … ich bin nicht zur Tafel durchgekommen.«
»Bist du so schwach?«, wunderte sich der Mann. »Wenn du willst, seh ich mal für dich nach.«
Die Rothaarige nickte.
»Wie war dein Familienname? Lys?«
Am Eingang keifte jemand. Oben stand, ganz in der Nähe der Wendeltreppe, ein ordentlicher junger Mann in einem blendend weißen Hemd. Er fand ein großes Vergnügen daran, zwei Stufen über den anderen zu stehen und mit weisem und müdem Blick auf sie, diejenigen, die gerade erst die Schule hinter sich hatten, herabzusehen.
»Hey, Lys! Stell den Schampus kalt und schwing das Tanzbein!«
Die junge Frau blickte verblüfft drein. Offenbar konnte sie es nicht glauben.
Irgendwo weiter oben, in einer selbst für den ordentlichen Jüngling unerreichbaren Höhe, öffnete sich eine Glastür. Ein fülliger Mann mit einer flachen Ledertasche winkte mit einem weißen Blatt Papier wie mit einem Taschentuch. Eilfertig nahm der Ordentliche das Papier aus den weichen Händen entgegen und las es mit gerunzelter Stirn durch. »Achtung, eine wichtige Durchsage!«, verkündete er. »Die Studenten des ersten Semesters wenden sich wegen des Wohnheims an … Die wehrpflichtigen Studenten melden sich in Zimmer fünf … Alle immatrikulierten Hexen …«, hier senkte der Student unwillkürlich die Stimme, während sich ein seltsamer Ausdruck in sein Gesicht schlich, »… haben persönlich beim Direktor zu erscheinen und das Dokument ihrer Registrierung bei der Kreisinquisition vorzulegen.«
»Die nehmen Hexen«, keifte die verweinte junge Frau mit der offenen Mappe. »Die nehmen Hexen … Ist denn das die Möglichkeit?«
Man sah sie mit mitleidsvollem Argwohn an.
Denn bei Lichte betrachtet nahm man Hexen doch nirgendwo an.
»Bleib bei der Wahrheit. Hexen sind zwar verschiedene Bürgerrechte entzogen, nicht aber das Recht auf einen Beruf.«
Ywha brachte es gerade noch fertig, keine Grimasse zu schneiden. Es war schon erstaunlich, wie wenig diese bedeutenden Herren über das Leben wussten, das sich zu Füßen ihrer hohen Stühle abspielte.
Einem Sprichwort zufolge wurde man alt, sobald man in seinen Erinnerungen lebte. Sie, Ywha, hatte sich damit heute den Titel einer ehrwürdigen Greisin verdient; diese Erinnerungen waren wie alte Kleider, die, mit Naphthalin behandelt, in einer verschlossenen Truhe ruhten. Und es war dumm, sie ans Tageslicht zu zerren.
Noch dümmer war es allerdings, daran ein Vergnügen zu finden.
Kein Spiel hatte Ywha mehr gehasst als das, bei dem man ehrlich antworten musste. Da hatte sie die ganze Zeit über geschwiegen — und wurde deshalb scheel angesehen.
Später hatte sie gelernt zu lügen. Absolut offen zu lügen, wenn man ihr offene Fragen stellte. Und alle hatten sie geliebt. Ihr geglaubt.
»Ich hatte keine Ahnung, dass es ein solches Spiel gibt.«
»Doch. Vor allem gegen Abend. Wenn die Mädchen zu fünft in den Schlafsälen liegen und vor dem Einschlafen noch etwas schwatzen. Oder wenn alle ein wenig getrunken haben.«
Der Inquisitor legte den Kopf schräg. Er saß ihr halb zugewandt da, und im Licht der Wandlampe sah Ywha nur seine eine Gesichtshälfte. Mit dem herabgezogenen Mundwinkel.
Warum erzählte sie ihm das eigentlich alles? Und warum interessierte es ihn?
Aus professioneller Neugier? Wie viele solcher Beichten er sich wohl an jedem Arbeitstag anhörte?
Plötzlich fiel ihr das große Bett in der anderen Wohnung wieder ein, ein Schlachtfeld, überzogen mit dem Schnee der weißen Bettwäsche.
»Und wie sieht Ihr Leben aus?«
Die Frage war ihr ganz von selbst entschlüpft. Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, wurde Ywha voller Entsetzen klar, dass sie die Worte nicht mehr zurücknehmen konnte. Worte sind keine Spaghetti, die man sich in den Mund stopfen kann.
Die Pause dehnte sich. Ywha schluckte ihre Spucke hinunter.
»Was meinst du? Wie wird mein Leben schon aussehen?«
»Wollen Sie denn immer so weitermachen?« Ywha seufzte verzweifelt. »Ich habe gehört, ein Inquisitor darf nicht heiraten.«
Sie stellte sich auf jede Reaktion ein. Gelächter, Desinteresse, eine bissige Bemerkung, arrogante Abkehr. Der Inquisitor drehte langsam den Kopf.
»Das geht mich ja nichts an«, murmelte Ywha. »Entschuldigen Sie bitte.«
Er lächelte. Ihre Angst schien ihn zu amüsieren. »Schon gut, deine Frage ist ganz normal.«
(Djunka. Mai.)
Die Luke, die zum Dachboden führte, war nie abgeschlossen.
In tiefem Schweigen liefen sie an dem Betonkasten vorbei, in dem sich etwas drehte und die Motoren der beiden schwachen Fahrstühle brummten. Sie liefen an der niedrigen Tür vorbei, deren Klinke ein großes Vorhängeschloss sicherte. Sie kletterten die akkurat gestrichene Eisenleiter hoch und kamen hinaus in den feuchten Frühlingsabend. Vierundzwanzig Stockwerke brachten sie den Sternen nicht näher, von denen es ohnehin nur zwei oder drei gab. Über den dunklen Himmel zogen, ständig die Form wechselnd, graue Wolken dahin.
Früher hatte es hier einmal ein Café gegeben. Jetzt war von ihm nur noch das Eisenskelett eines Sonnenschirms übrig, den man hier seinem Schicksal überlassen hatte und der langsam vor sich hin rostete. Das alte Geländer rostete ebenfalls, weshalb sich Klaw auch nicht dagegenlehnte.
Hier brauchte man kein Licht. Die Fassade des Hauses gegenüber war vollständig in bunte, flackernde Reklamelichter getaucht. Djunkas Gesicht, in dem jede Wimper klar erkennbar war, leuchtete mal apfelsinengelb, mal fliederfarben oder grasgrün. Klaw wusste, dass er selbst nicht besser aussah.
»Wie im Zirkus.« Djunkas Mundwinkel umspielte ein Lächeln.
Klaw fröstelte. Er hatte keine Höhenangst, aber der Wind stellte sich als überraschend kalt heraus.
»Klaw … ich … liebe … dich.«
Aus unerfindlichen Gründen fuhr er zusammen. Er legte ihr die kalten Hände auf die Schultern. »Djunotschka …«
»Klaw …«
»Djun.« Er befeuchtete sich die Lippen. »Und was wäre … wenn ich sterben würde? Was würdest du dann tun? Wenn ich plötzlich …«
Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich. Er glaubte, Angst darin zu erkennen.
»Tut mir leid«, sagte er hastig. »Ich …«