Erst da schaute Klawdi zu Fedora hinüber. Sie sah besser aus. In den zwei Wochen, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hatte sie fraglos zugenommen. Angeblich sollen Frauen ja häufig zu viel essen, wenn sie Kummer haben.
Die paar Pfunde mehr standen Fedora. Sie glätteten eine gewisse Härte in ihrem Gesicht, rundeten die Schultern, vergrößerten offenbar sogar die Brust.
Woran dachte er jetzt schon wieder?! Ob das seine fabelhaften »eigenen Gedanken« waren, die er seinen Kollegen auch gleich mitteilen sollte?!
In Fedoras schönen Augen lag — wenn auch nicht an der Oberfläche, sondern tief innen — eine weniger schöne Panik.
»Du verstehst das doch, nicht wahr? Das, was hier vor sich geht? Du kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«
»Vielleicht trage ich hiermit zu Ihrer Erheiterung bei«, ergriff Klawdi nun mit unaufgeregter Stimme das Wort, »aber offenbar steht uns nicht mehr und nicht weniger als die Ankunft der Mutterhexe ins Haus.«
… In der Scheune roch es nach Heu und Erde. Und nach feuchtem Brennholz.
Das Scheunendach war so verbeult wie ein alter Kessel, Löcher und Ritzen klafften darin. In die Löcher schoss mit scharfen Strahlen Licht. Mondlicht.
Nein, das war kein Dach. Das war der Himmel. Und die nadelgleichen Strahlen, das waren die Sterne.
Ywha rannte, den Kopf zurückgeworfen, den Weg nicht einmal witternd. Dennoch stieß sie nirgendwo an, als führten ihre Beine das Kommando.
Den Strahlen am schwarzen Himmel, diesen Nadeln, gesellte sich eine weitere hinzu, die sie in der Hand hielt.
Ein Reigen leuchtender Flecken — bis es düster wurde.
Die Menschen, diese silbrigen Schatten, waren an den Himmel gepinnt, mit einem Nagel mitten durchs Herz. Ohne den Silbernagel in ihrer Brust zu berühren, schwebten sie dort. Ywha musste blinzeln, vertrieb die Tränen. Nein, das sind doch keine Menschen, das sind nur Sterne! Noch einmal blinzelte sie. Das sind … Schatten, aufgespießt auf weiße Nadeln. Weiß-hellblaue Schatten, weiß-rosafarbene Schatten, grünliche …
Was für ein malerischer Anblick!
Ywha lachte auf. Die lange Nähnadel zitterte in ihrer Hand.
Ein schöner Mann mit weichem, weißem Haar löste in Ywha, obgleich sie ihn nicht kannte, einen irrsinnigen Hass aus. Sie nahm ihn genau wahr, diesen Geruch von Hass. Den Geruch von Eisen.
Inmitten all der anderen Sterne prangte ein scharfzackiger.
Sie streckte sich aus. Und sie beobachtete, wie die spitzen Nadeln und der scharfzackige Stern eins wurden.
Ywha stach zu. Die Nadel bohrte sich bis zur Hälfte in den Himmel, dann rutschte sie wieder heraus. Verrostet.
Der Stern trübte sich ein.
Ein Windhauch ging. Der Geruch nach geschmolzenem Paraffin breitete sich aus. Kerzen, Kampferalkohol, ein bleiches, unbekanntes Gesicht. Lachend warf Ywha die verrostete Nadel in einen Brunnen.
Das weiße Auge des Mondes lugte aus einer fernen, tief in der Erde gelegenen Schale heraus. Ein Mond, der am Boden des Brunnens lag, eine verrostete Nadel, die das unzufriedene Auge des Mondes piekte.
Ywha fühlte sich schwerelos. So schwerelos wie nie zuvor. Die Erde lag weiter unter ihr. Mit dem Mund fing Ywha den Wind ein, der, selbst als er ihr bereits in die Lungen drang, Wind blieb. Kalt und wild.
Eine Kristallerde. Ywha sah, wie das tief in der Erde liegende Muttermal bläulich aufschimmerte. Wie eine Truhe, von Wurzeln umflochten, wie es trüb ergelbte, menschlichen Knochen ähnlich, die vergessen am Grund einer Schlucht weißten.
Jedes Geräusch fehlte, nur Gerüche gab es. Die unendlich vielfältigen Gerüche des Windes.
Ywha lachte.
Endlich kam sie wieder zu sich. Die Hexe, die vor ihr stand, blickte weiterhin stumpfsinnig durch sie hindurch, in eine Weite, die es nicht gab. In dem kleinen Kellerraum war es heiß. Es ließ sich nur schwer atmen, die rituelle Fackel blakte.
Sie brauchte einige Minuten, um ihre Benommenheit abzuschütteln. Anstelle des süßen Windes umgab sie die abgestandene Luft des Verhörraums. Hunderte von Nadeln bohrten sich ihr in die Hände, die Wangen und die Stirn.
Unsicher schüttelte sie den Kopf. Blinzelnd betastete sie ihr Gesicht. Auf ihre Schultern legten sich feste, schwere Hände.
»Das war großartig. Hast du Schmerzen?«
»Nein …«
Es war … wie damals in der Schulzeit. Im städtischen Schwimmbad. Als sie über die glitschige Trittleiter aus dem transparenten, vom Chlor blauen Wasser stieg und die Erdanziehungskraft sich ihr mit der alten, inzwischen vergessenen Last auf die Schultern legte.
Ja, genauso fühlte es sich jetzt an.
Sie wartete in ihrer Nische, wo extra für sie ein kleiner Dreifuß bereitgestellt worden war. Sie wartete, bis die ausgelaugte, benebelte Hexe hinausgeführt worden war. Sie würde sich selbstverständlich an nichts erinnern.
Ywha spürte eine flüchtige Antipathie. Und Neid. Eine genadelte Hand ist widerlich. Ein Flug über Gräser dagegen, über Baumwipfel hinweg …
»Ywha …«
Sie schaltete sich ins Jetzt zurück. Panisch riss sie sich von ihren Gedanken los. Alles Hexenhafte sollte getrost bei der Hexe bleiben. Ihre Sünden und blutrünstigen Freuden waren ihr, Ywha, durch und durch fremd, daran würde sich nie etwas ändern. Sie diente nur als Spiegel. Ein Spiegel beschlägt schließlich auch nicht, wenn er Nebel spiegelt. Ein Spiegel zerspringt nicht, wenn er einen Blitz spiegelt.
»Ywha …«
Klawdi wirkte verdrossen. Und besorgt. Als sie versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, misslang das. »Was ist?«, fragte sie deshalb, ohne zu lächeln. »Ist der Versuch gescheitert? Kreisten unsere Träume … um nichts? Gab es nichts Neues?«
Gierig stürzte Klawdi Mineralwasser aus einem schmalen Glas hinunter. Ywha spürte, wie trocken ihr Mund war. Die reinste Wüste.
Er fing ihren Blick auf. Entschuldigend zuckte er die Achseln, beförderte von irgendwoher ein weiteres Glas zutage und goss ihr ebenfalls ein.
»Ywha … Ich glaube, wir verstehen uns vermutlich besser, wenn ich dir etwas erkläre. Nämlich, was wir eigentlich suchen.«
Aus unerfindlichen Gründen fürchtete sie sich genau davor. Sie trat an den hohen Stuhl heran und setzte sich auf die Armlehne.
»All diese Hexen sind … unterschiedlich. Aber wir suchen das Gemeinsame in ihnen, Ywha. Wir brauchen … das verbindende Motiv. Ich würde es das … Grundmotiv nennen.«
Ywha sagte kein Wort.
»Falls du das jetzt noch nicht verstehst, wirst du es sicher später … Sie bringen jetzt eine andere Hexe, und du solltest versuchen, in ihren Motiven eben dasjenige zu entdecken … das sie letztlich antreibt. Das den Wunsch auslöst, sich selbst zu opfern. Den Wunsch, anderen zu folgen. Und was immer sonst noch. Ich habe keine Ahnung, Ywha! Aber eine solche Triebkraft muss es geben. Es ist das Gefühl … wenn du so willst … das Gefühl einer treu ergebenen Tochter.«
»Ich bin müde«, flüsterte Ywha.
»Was?«
»Ich … kann nicht mehr. Heute jedenfalls nicht. Es geht einfach nicht mehr. Ich bin müde.«
Sie beobachtete, wie Verwunderung und Ärger auf seinem Gesicht der gewohnten Verdrossenheit wichen. Seufzend legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid. Natürlich musst du dich ausruhen. Morgen geht’s weiter.«
Die Geheimtür öffnete sich. Der junge Mann, der darin stand, einer derjenigen, die Ywha durch das Palastinnere begleiteten, trat auffordernd in den dunklen Gang zurück.
Auf einmal fühlte sie sich traurig. Einsam und allein. »Vielleicht könnte ich …«