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Er dachte bereits an etwas anderes. Ihre Frage riss ihn aus Überlegungen von staatstragender Relevanz, weshalb seine Augenbraue leicht verärgert in die Höhe schnellte. »Was?«

»Könnte ich vielleicht ein bisschen spazieren gehen?«, fragte sie ohne jede Hoffnung. »Ohne Aufpasser?«

Einen Moment lang sah er ihr in die Augen. Dann trat er an die Wand, und Ywha hörte zu ihrer Überraschung das Geräusch eines Lichtschalters. Sofort wirkte die Fackel überflüssig und fehl am Platze. Ywha hatte bisher nicht gewusst, dass sich dieser Raum derart grell beleuchten ließ.

Klawdi drehte sich um und baute sich vor Ywha auf, die, da sie den eindringlichen Blick nicht aushielt, wegsah.

»Ich vertraue dir«, sagte er langsam. »Du kannst so lange Spazierengehen, wie du willst … Na los …«

Erst im Gang, in der Begleitung des Wärters, der nach frisch gegerbtem Leder roch, erreichte sie sein Ruf: »Ywha!«

Erschaudernd blieb sie stehen.

»Ich begleite dich ein Stückchen. Du hast doch nichts dagegen?«

Die Sonne ging unter.

Durch die Straßen strich heißer Wind; Staub, Pappelflaum und Bonbonpapier strömten in kleinen Windhosen. In den Kellern der Inquisition ist es das ganz Jahr über gleichbleibend feucht und kalt, dachte Ywha. Aber dort drüben an der Kreuzung gab eine Schar sportlicher Mädchen, die erfolglos versuchte zu trampen, mit ihrer bronzenen Sonnenbräune an, mit dieser Art Bräune, wie man sie sich in langen und tristen Stunden am Strand erliegen muss.

Trotzdem blieb selbst ein verregneter Sommer ein Sommer!

Sie atmete tief ein. Der Wind spielte mit den leichten, kurzen Röcken dieser ausgelassen wirkenden Frauen — und fuhr stumpf in den undurchdringlichen Stoff von Ywhas Jeans. Beschämt zog er daraufhin ab.

Der Wind. Die Erde tief unten.

In den heißen Wind mischte sich eine einzelne eisige Brise. Eine Brise jenes Nachtwinds. Ywha erschauderte — und die Brise verschwand.

»Möchtest du ein Eis?«

Ywha schüttelte den Kopf. Sie hatte den Eindruck, Klawdi würde still vor sich hin unablässig mehrstellige Zahlen dividieren. Während er sich mit ihr unterhielt, dachte er über sie nach — und noch über etwas anderes. Und dann auch noch über etwas Drittes.

»Was willst du denn überhaupt machen? Willst du runter zum Strand? Oder shoppen?«

Ywha stöhnte traurig.

Es gehörte sich nicht, einen viel beschäftigten Mann von der Arbeit abzuhalten. Klawdis Gesicht glich einer Sanduhr, und die Zeit, die er für die junge Hexe abzweigte, war bereits fast durchgerieselt.

Hier, außerhalb des Kellers, interessierte sie ihn nicht. Gleich würde er ihr die Frage stellen, deretwegen er seine wichtigen inquisitorischen Aufgaben unterbrochen hatte. Er würde sie stellen, eine Antwort erhalten und weggehen. Allein könnte Ywha dann Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle bringen, durch die Stadt schlendern wie ein freier Mensch … Und so viel Eis essen, wie sie mochte. Denn wie es ein glücklicher Zufall wollte: Sie hatte die Tasche voller Kleingeld.

»Was bedrückt dich, Ywha?«

Ein gute Frage.

Ein Teenager skatete an ihnen vorbei. Er sprang auf die Fahrbahn, machte vor einem empört hupenden Auto eine Kehrtwende, flog wieder auf den Gehsteig und verschwand johlend um die nächste Ecke.

»Fällt dir sehr schwer, was du machst? Wozu ich dich zwinge? Indem ich dich, wie ich es gewohnt bin, unter Druck setze?«

Sie lächelte säuerlich.

Da packte er sie bei den Schultern und riss sie an sich. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Am Hals spürte sie seine kräftige Hand. Wenn er wollte, bräuchte er ihr bloß die Schlagader abzudrücken …

An der Stelle, an der sie gerade eben noch gestanden hatte, sauste ein weiterer Skater vorbei. Ywha spürte den Luftzug, der über sie hinwegzischte, und erspähte eine feuerrotes Baseballcap mit in den Nacken geschobenem Schirm. Der Junge war höchstens dreizehn. Jetzt schoss er in eine eiserne Mülltonne, stolperte und schrubbte mit den leidgeprüften Knieschonern über den Asphalt.

Als Klawdi Ywha wieder losließ, versuchte sie, seinen Blick zu meiden.

»Sag mir, wenn dich etwas beunruhigt, Ywha. Das ist wichtig.«

Sein Gesicht fungierte nun nicht mehr als Sanduhr. Kam es ihr nur so vor oder spiegelte sich in ihm eine echte, unverfälschte Sorge wider? Interessierte ihn wirklich, was in ihrem Innern vorging? Oder bedeutetet dieses »Das ist wichtig« nur dies: wichtig für die Inquisition?

»Mögen Sie Hunde, Klawdi?«

»Ja«, antwortete er prompt und ohne sich zu wundern.

»Und Katzen?«

»Auch. Wieso?«

»Und Meerschweinchen?«

»Die nicht. Und Hamster auch nicht. Fischen und Papageien stehe ich völlig gleichgültig gegenüber. Was noch?«

»Sehen Sie in mir eine Katze — oder doch nur einen Hamster? Oder ein Versuchskaninchen?«

Tief in ihrer Seele hoffte sie, sie würde ihn damit aus der Reserve locken. Er würde sich wenigstens kurz empören.

Eine vergebliche Hoffnung.

»Du bist ein Mensch. Habe ich dich verletzt? Habe ich dich wie eine Katze behandelt?«

Toll, nun durfte sie sich auch noch rechtfertigen. Weil sie den guten Herrn Inquisitor grundlos beleidigt hatte …

»Ich bin traurig.« Nervös kaute sie auf der Lippe herum. »Ich sehe mich in dem Ganzen gar nicht. Nirgends. Es kommt mir vor, als trete ich vor einen Spiegel und in dem spiegelt sich das Zimmer … und meine Sachen … nur ich nicht. Die Hexe, die gegen die Hexen vorgeht. Die Braut ohne Bräutigam. Als ob ich ein Werkzeug von Ihnen wäre … noch dazu ein billiges und aus zweiter Hand.«

»Du bist meine Mitarbeiterin«, sagte Klawdi sanft. »Meine Verbündete. Wenn du so willst, meine Freundin.«

»Das geht nicht. Seinen Mitarbeitern sagt man die Wahrheit. Und mit Freunden … ist es ohnehin schwierig. Ich hatte nie Freunde. Und Sie auch nicht.«

»Woher weißt du das?«

Da riss sich Ywha wieder zusammen.

Es dämmerte bereits. Irgendwo in einem Gartencafé erschallte durchdringend ein Banjo. Über den hellgrauen, vom Wind blank gefegten Gehsteig klackerten rote Lackschuhe mit unglaublichen Pfennigabsätzen. Die Besitzerin dieser High Heels sah Ywha nicht — so tief hatte diese, sich ihrer Schuld bewusst, den Kopf gesenkt.

»Was soll das, Ywha? Erlaubt sich da die Hexe in dir einen Spaß? Gräbst du Geheimnisse aus, ziehst du sie ans Licht?«

»Das ist doch kein Geheimnis.« Ywha hob den Kopf. »Jeder, der sich nur kurz mit Ihnen unterhält … begreift sofort, dass Sie keine Freunde haben.«

»Ist das so schlimm?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ändern lässt es sich jedenfalls nicht.«

»Weißt du was, Ywha?« Klawdi deutete ein Grinsen an. »Wenn du keine Hexe wärst, würde ich dich für ein Genie halten. Bei deiner Intuition … Du bist also der Ansicht, ich sei weder zu treuer Freundschaft noch zu hehrer Liebe fähig?«

… Der Wind im Gesicht, das Gefühl zu fliegen, geknicktes Gras, der Wald, über dessen Wipfel grüne Wellen wogten …

Ihr bleicher Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Vom Scheitel bis zur Sohle. Was sollte das? Fand sie jetzt etwa Gefallen daran, eine Hexe zu sein?!

Sie drehte sich weg und lehnte sich über einen gusseisernen Zaun, der eine Blumenrabatte säumte. »Zu hehrer Liebe … sind Sie imstande. Das weiß ich.«

»Wie solltest du das auch nicht wissen? Schließlich hast du ja dieses prachtvolle Bett gesehen, diesen Weidegrund der hehren Liebe …«