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Da öffnete sich die Falltür und klappte nach oben. Herein schien - das grelle Tageslicht!

„Hoppla!" dachte das kleine Gespenst. „Ist draußen nicht Mitternacht?"

Es steckte den Kopf durch die Öffnung ins Freie und schaute sich um.

Das erste, was es erblickte, waren zwei blankgewichste schwarze Stiefel dicht vor seiner Nase. In den Stiefeln steckte ein Mann, der einen blauen Rock mit blanken Messingknöpfen trug. Er hatte lange weiße Handschuhe an. Auch die Mütze auf seinem Kopf war weiß.

Das kleine Gespenst hatte keine Ahnung, daß der Mann mit der weißen Mütze ein Verkehrsschutzmann war - und der Verkehrsschutzmann konnte nicht wissen, daß die schwarze Gestalt mit den weißen Augen, die mitten auf der verkehrsreichsten Kreuzung des Städtchens plötzlich den Kopf aus dem Boden steckte, ein kleines Gespenst war. Er hielt es für einen Kanalräumer.

„Sagen Sie mal, sind Sie wahnsinnig?" rief er und stemmte die Hände in die Hüften. „Was fällt Ihnen ein, hier einfach den Deckel aufzuklappen und den Verkehr zu behindern?! Machen Sie gefälligst, daß Sie wieder in Ihrem Loch verschwinden - aber ein bißchen dalli!"

Die Autofahrer, die an der Kreuzung hielten, konnten sich nicht erklären, weshalb sie der Schutzmann warten ließ. Einige wurden ungeduldig und begannen zu hupen. Das kleine Gespenst aber ärgerte sich darüber, daß der Schutzmann mit ihm geschimpft hatte.

Es begann sich aufzublasen, bis sein Kopf so groß und so dick war wie eine Regentonne.

Dann spitzte es die Lippen und ließ die Luft aus dem Kopf entweichen. Sie zischte heraus wie aus einem Ballon.

„Pfüüüüü-itt", blies das kleine Gespenst dem Schutzmann die weiße Mütze vom Kopf.

Der Ärmste war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Er stand mit weit aufgerissenen Augen da und war käsebleich im Gesicht.

„Siehst du wohl!" sagte das kleine Gespenst und kicherte.

Zufrieden zog es sich in den unterirdischen Gang zurück. Klapp! schloß der Deckel sich über ihm.

Der Verkehrspolizist brauchte eine ganze Weile, um sich von seinem Schreck zu erholen. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis er es fertigbrachte, den Arm zu heben und die Autos, die an der Kreuzung standen und hupten, weiterfahren zu lassen.

Der schwarze Unbekannte geht um

Seit dem Zwischenfall auf der Kreuzung gab es in Eulenberg eine ganze Woche lang jeden Mittag zwischen zwölf und eins große Aufregung. Um diese Zeit tauchte immer wieder an den verschiedensten Stellen des Städtchens eine schwarze Gestalt aus dem Boden auf und erschreckte die Leute.

Am Dienstag erschien sie zwischen den Verkaufsbuden auf dem Grünen Markt, und die Marktweiber -sonst bestimmt nicht gerade zimperlich - liefen kreischend und zeternd nach allen Himmelsrichtungen auseinander.

Am Mittwoch stattete sie dem Goldenen Löwen einen Besuch ab und jagte den Mittagsgästen, dem Löwenwirt und dem Personal einen heillosen Schrecken ein.

Am Donnerstag wurde die schwarze Gestalt mit den furchterregenden weißen Augen im Städtischen Gaswerk gesichtet; am Freitag verursachte sie auf dem Schulhof der Mädchenvolksschule unter den Schülerinnen der sechsten Klasse, die dort gerade turnten, ein unbeschreibliches Durcheinander.

Kurz und gut, es gab keinen Tag in der ganzen Woche, an dem die geheimnisvolle schwarze Gestalt nicht irgendwo auftauchte.

Im „Eulenberger Stadtanzeiger" erschienen immer längere und immer empörtere Artikel, in denen mit aller Schärfe danach gefragt wurde, wie lange es sich die Stadtverwaltung noch leisten wolle, diesen besorgniserregenden Umtrieben tatenlos zuzusehen.

Der Bürgermeister berief den Stadtrat zu einer Sondersitzung ein. Der Leiter der Stadtpolizei überlegte mit seinen Beamten bei Tag und Nacht (aber leider erfolglos), wie man den „Schwarzen Unbekannten" am besten fangen könnte. Niemand im ganzen Städtchen wußte für die täglichen Zwischenfälle eine Erklärung - nicht einmal der Herr Kriminaloberwachtmeister Holzinger, der doch dafür bekannt war, daß er selbst allergeheimsten Geheimnissen innerhalb allerkürzester Zeit auf den Grund kam.

Und dabei war die Sache in Wirklichkeit ja ganz einfach!

Das kleine Gespenst erwachte seit neuestem nie mehr um Mitternacht, sondern immer um zwölf Uhr mittags.

Es hatte sich in dem Gewirr der unterirdischen Gänge so gründlich verirrt, daß es den Rückweg zum Burgbrunnen nicht mehr fand. Seither versuchte es sein Glück bei jedem der zahlreichen Ausstiege, die aus den Gängen ins Freie führten - immer in der Hoffnung, eines schönen Tages doch wieder auf der Burg zu landen.

„Im übrigen macht es mir gar nichts aus, wenn ich auf diese Weise ein wenig im Städtchen herumkomme" , dachte es. „Schade nur, daß die Leute immer gleich vor mir ausreißen! Aber wahrscheinlich liegt es daran, daß ich schwarz bin. Als ich noch weiß war, muß ich bedeutend harmloser ausgesehen haben als jetzt. Aber was will man dagegen machen?"

Manchmal bekam das kleine Gespenst Heimweh nach seinem Dachboden und der Truhe aus Eichenholz.

Manchmal wurde es traurig bei dem Gedanken, daß es in Zukunft womöglich immer bei Tageslicht geistern sollte und nie mehr um Mitternacht.

„Bei Vollmond", dachte es seufzend, „war es sehr schön auf dem Eulenstein ..."

Und dann stellte es sich - zum wievielten Mal wohl? -die Frage, was denn zum Kuckuck mit ihm geschehen sei.

„Kann man als Nachtgespenst mir nichts, dir nichts zu einem Taggespenst werden?" fragte es sich. „Und wenn ja - woran liegt es wohl, daß ich eines geworden bin? So etwas kann doch nicht ohne Grund geschehen! Es muß eine Ursache haben . . . Aber ich fürchte, die Ursache werde ich nie erfahren. Und wenn sie mir jemand sagen könnte, was hätte ich schon davon? Ich muß eben sehen, daß ich mit meinem Schicksal fertig werde - und damit basta."

Verzierungen

Am Sonntagmittag entdeckte das kleine Gespenst auf dem Weg durch die unterirdischen Gänge einen neuen Ausstieg. Wie alle Ausgänge aus dem Höhlengewirr war er mit einem starken, fest in die Felswände eingemauerten Gitter versperrt. Nur daß sich hier wenige Schritte hinter dem ersten Gitter ein zweites und hinter dem zweiten ein drittes befand. Dann kam eine Stahltür mit einem Sicherheitsschloß.

„Was bedeutet das?" dachte das kleine Gespenst.

Das Sicherheitsschloß zu öffnen, war eine Kleinigkeit. Ein Wink mit dem Schlüsselbund, und der Weg war frei. Er führte durch einen Kohlenkeller geradenwegs in das Rathaus des Städtchens Eulenberg!

Das kleine Gespenst machte große Augen, als es die Kellertreppe hinaufhuschte und sich plötzlich im Rathaus befand - im Rathaus mit seinen Gängen und Amtsstuben, mit der schönen alten Steintreppe und den bunten Glasfenstern im Stiegenhaus, die in der Mittagssonne leuchteten.

Wochentags herrschte im Rathaus von Eulenberg immer reges Leben. Beamte und Angestellte eilten von Tür zu Tür, der Ratsdiener schleppte Stöße von Akten umher, auf den Gängen warteten alle möglichen Leute in allen möglichen Angelegenheiten. Doch heute, am Sonntagmittag, war kein Mensch hier. Das kleine Gespenst konnte sich ungestört im ganzen Rathaus umsehen. Es öffnete alle Türen und blickte in alle Räume.

Dabei fiel ihm auf, daß in jedem Zimmer das gleiche Bild an der Wand klebte. Die Bilder zeigten in leuchtenden Farben - den schwedischen General Torsten Torstenson! Groß und breitspurig saß er auf seinem Apfelschimmel und schwenkte den Feldherrnstab in der rechten Hand. Sein grüner Reitermantel bauschte sich im Wind, die Federn an seinem Hut leuchteten mit dem roten Knebelbart um die Wette.