»Vielleicht nicht.« Ich wechselte einen vestohlenen Blick mit Tiro. Wie hätte einer von uns die Verbitterung und Verzweiflung von Roscia Majora vergessen können? Der Freispruch ihres Vaters hatte all ihre Hoffnung auf Rache und Schutz für ihre geliebte Schwester zunichte gemacht. Ich räusperte mich und rieb mir die müden Augen. »Sei so nett und begleite mich zurück zu Caecilias Haus, Rufus, und zeig mir, wo und wie Roscius gestorben ist.«
»Heute nacht noch?« Er sah müde aus und verwirrt und wie ein junger Mann, der am frühen Abend schon zuviel Wein getrunken hatte.
»Morgen ist es vielleicht zu spät. Caecilias Sklaven könnten wichtige Beweise zerstören.«
Rufus willigte mit einem müden Nicken ein.
»Und Tiro«, sagte ich, ein Flehen in seinen Augen erhörend. »Kann er auch mitkommen, Cicero?«
»Mitten in der Nacht?« Cicero verzog mißbilligend die Lippen. »Oh, also meinetwegen, soll er ruhig.«
»Du bist natürlich auch eingeladen.«
Cicero schüttelte den Kopf. Er sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. »Das Spiel ist aus, Gordianus. Für alle Menschen mit einem reinen Gewissen wird es langsam Zeit, sich ihre wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Sextus Roscius ist tot, und was noch? Er ist aus freien Stücken gestorben; Sulla-vor-dem-es-keine-Geheimnisse-gibt persönlich hat es gesagt. Gib es auf, Gordianus. Folge meinem Beispiel und gehe ins Bett. Der Prozeß ist beendet, der Fall ist abgeschlossen. Aus und vorbei, mein Freund.«
»Vielleicht, Cicero«, sagte ich, ging in die Halle und machte Rufus und Tiro ein Zeichen, mir zu folgen. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Hier muß es gewesen sein, genau an dieser Stelle«, flüsterte Rufus.
Der Vollmond schien hell auf die Platten des Balkons und die kniehohe steinerne Brüstung. Ich blickte über den Rand und entdeckte gut zehn Meter unter uns die Treppe, von der Rufus gesprochen hatte; die glatten, abgetretenen Kanten der Stufen glänzten matt im Mondlicht. Die Treppe wand sich weiter nach unten in die Dunkelheit, gesäumt von hochgewachsenen Wildkräutern, nur hier und da vom Ast einer Eiche oder Weide verdeckt. Aus dem Innern des Hauses erfüllte Klagegeschrei die warme Abendluft; die
Leiche von Sextus Roscius war im Heiligtum von Caecilias Göttin aufgebahrt worden, und ihre Sklavinnen hatten das zeremonielle Klagen und Schreien angestimmt.
»Die Brüstung sieht jämmerlich niedrig aus«, sagte Tiro und trat aus sicherer Entfernung gegen eine der gedrungenen Säulen. »Kaum hoch genug, um ein Kind auf dem Balkon zu schützen.« Er wich schaudernd zurück.
»Ja«, pflichtete ihm Rufus bei. »Das habe ich Caecilia gegenüber auch schon angemerkt. Offenbar gab es früher einmal ein zusätzliches Holzgeländer. Man kann die eisernen Einfassungen an manchen Stellen noch sehen. Aber das Holz ist morsch und brüchig geworden, und irgend jemand hat das Geländer abreißen lassen. Caecilia sagt, sie wollte schon lange ein neues bauen lassen, ist aber bis jetzt noch nicht dazu gekommen. Der hintere Flügel ist bis zur Ankunft von Sextus und seiner Familie lange nicht benutzt worden.« Er trat neben mich und blickte vorsichtig über den Rand. »Die Treppe dort unten ist steiler, als sie von oben aussieht. Sehr steil und eng, rutschig und hart. Sie hinabzusteigen ist schon an sich gefährlich; für einen Mann, der gestürzt oder gestolpert ist...« Er schüttelte sich. »Er ist noch den halben Hügel hinabgerollt, bevor sein Körper zum Liegen kam. Da, man kann die Stelle von hier aus durch die Lücke zwischen den Zweigen sehen, wo die Treppe eine scharfe Biegung macht. Man kann sie genau erkennen - da vorne, wo sich der Mond in der Blutlache spiegelt wie in schwarzem Öl.«
»Wer hat ihn gefunden?« fragte ich.
»Ich. Das heißt, ich war der erste, der schließlich nach unten gegangen ist, um seine Leiche umzudrehen.«
»Und wie kam das?«
»Ich hatte den Schrei gehört.«
»Wessen Schrei? Hat Roscius denn geschrien, als er hinuntergestürzt ist?«
»O nein. Roscia, seine Tochter. Ihr Schlafzimmer, das sie sich mit ihrer kleinen Schwester teilt - liegt gerade noch im Haupthaus, die erste Tür des Flures.«
»Das verstehe ich nicht.«
Rufus holte tief Luft. Es fiel ihm offenbar schwer, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. »Ich war schon in mein Schlafzimmer gegangen - in dem ich immer schlafe, wenn ich über Nacht bleibe. Es liegt in der Mitte des
Hauses, ziemlich genau zwischen Caecilias Gemächern und diesen hier. Ich hörte einen Schrei, den Schrei eines Mädchens, gefolgt von lautem Weinen. Ich stürzte aus meinem Zimmer und folgte dem Geräusch. Ich fand sie hier oben auf dem Balkon, zitternd und schluchzend im Mondlicht - Roscia Majora. Natürlich hatte sie schon den ganzen Abend geweint, aber das war kaum eine Erklärung für den Schrei. Als ich sie fragte, was denn los sei, zitterte sie so heftig, daß sie nicht sprechen konnte. Statt dessen zeigte sie auf die Stelle, wo Sextus Roscius’ Leiche liegen geblieben war.« Er runzelte die Stirn. »Also war es eigentlich Roscia, die die Leiche als erste entdeckte, aber ich war derjenige, der dann runtergerannt ist, um nachzusehen.«
Ich sah mich zu Tiro um, der traurig den Kopf schüttelte. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. »Und wie kam es, daß Roscia zu dieser Stunde auf genau dem Balkon stand, von dem ihr Vater gefallen war?« fragte ich.
»Das habe ich sie auch gefragt«, sagte Rufus, »nachdem sie endlich aufgehört hatte zu zittern. Offenbar war sie aus einem Alptraum hochgeschreckt und wollte auf dem Balkon frische Luft schnappen. Sie hat eine Weile hier gestanden und den Vollmond betrachtet, sagte sie, und hat dann zufällig nach unten geschaut -«
»Und hat ebenso zufällig die Leiche ihres Vaters entdeckt, fast zwanzig Meter entfernt zwischen lauter Blättern, Gras und Steinen?«
»So unwahrscheinlich ist das nicht«, verteidigte Rufus sie. »Der Mond schien direkt auf die Stelle, ich hab ihn selbst gleich gesehen, als sie in die Richtung gezeigt hat. Und es war kein schöner Anblick, seine Gliedmaßen und sein Hals waren völlig unnatürlich verrenkt...« Er hielt inne, und sein Atem stockte, als er plötzlich begriff.
»Oh, Gordianus, du glaubst doch nicht, das Mädchen hat...«
»Natürlich hat sie«, sagte Tiro dumpf aus dem Schatten in unserem Rücken. »Die einzige Frage ist, wie sie es geschafft hat, Sextus auf den Balkon zu locken, aber ich bin sicher, das war nicht weiter schwierig für sie.«
»Das ist nicht die einzige Frage«, wandte ich ein, obwohl es reine Pedanterie zu sein schien, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. »Warum hat sie zum Beispiel geschrien, nachdem sie ihn gestoßen hat, wenn sie ihn wirklich gestoßen hat, und vor allem, wenn es ein vorsätzlicher Mord war? Warum blieb sie auf dem Balkon stehen, bis sie jemand finden konnte?«
Tiro zuckte gelangweilt die Schultern; für ihn war die Sache klar. »Weil die Realität ihrer Tat sie entsetzt hat. Sie ist schließlich noch ein Kind, Gordianus, keine abgebrühte Mörderin. Deswegen hat sie auch geweint, als Rufus hinzukam; das Entsetzen darüber, es wirklich getan zu haben, die Erleichterung, der Anblick seines zerschmetterten Körpers...« Tiro schüttelte verzweifelt den Kopf, aber als ich sein Gesicht sah, halb im Mondschein, halb im Schatten, las ich darin keine Gedanken an etwas Entsetzliches, sondern die Erinnerung an etwas, das für immer verloren und zu schmerzhaft süß zu ertragen war.
Ich drehte mich um und blickte in den Abgrund, die tiefe Grube aus Mondlicht und Schatten, in die Sextus Roscius am Ende gefallen war, ob durch seinen eigenen Willen oder den eines anderen. Ich kniete mich vor die Brüstung und strich mit beiden Händen über die bis auf ein paar Steinchen glatte Oberfläche, die an meinen Handflächen kleben blieben. Mir kam ein Gedanke.
»Tiro, nimm dir eine der Lampen. Halte sie direkt über die Brüstung, damit ich mir das mal genauer ansehen kann.« Das Licht wankte, ich blickte auf und sah, daß Tiro, so nahe am Rand stehend, blaß um die Nase geworden war. »Wenn du sie nicht ruhig halten kannst, gib sie Rufus.« Tiro übergab die Lampe ohne Zögern. »Hierher, Rufus«, sagte ich, »folge mir und halte die Lampe direkt über die Brüstung.«