»Paß auf deine Nase auf«, sagte Rufus, der meine Anspannung spürte und mit einem Witz zu überspielen suchte. »Wonach suchst du eigentlich?«
Wir gingen zweimal die gesamte Länge der Brüstung ab, ohne Erfolg. Ich stand auf und zuckte mit den Schultern. »Es war nur so eine Idee. Wenn Sextus Roscius tatsächlich aus eigenem Willen gesprungen ist, wäre es nur logisch, daß er vor dem Sprung auf die Brüstung gestiegen wäre. Ich hatte gehofft, daß man vielleicht die Ahnung eines Fußabdrucks in dem feinen Staub sieht.«
Ich drehte meine Hände unter dem Licht der Lampe um und betrachtete den feinen Staub, der vermischt mit kleinen Kiesbrocken an meinen Handballen klebte. Ich wollte mir gerade den Schmutz abklopfen, als ich ein winziges Teilchen entdeckte, das völlig anders aussah als die anderen. Es war größer und glänzte, mit glatten, scharfen Kanten; statt blaßgrau schimmerte es im Licht der Lampe mattrot. Ich drehte es mit dem Finger um und bemerkte, daß es gar kein Sternchen war.
»Was ist es?« flüsterte Rufus und drängte sich neben mich. »Klebt Blut daran?«
»Nein«, sagte ich, »aber etwas, das die Farbe von getrocknetem Blut hat.«
»Aber das ist Blut!« sagte Tiro. Während Rufus und ich die Brüstung inspizierten, hatte er sich eine eigene Lampe genommen und die Steinplatten des Balkons in sicherem Abstand vom Rand untersucht. Direkt vor seinen Füßen waren, so winzig, daß wir sie vorher nicht bemerkt hatten, ein paar Spritzer einer dunklen Flüssigkeit auf dem Boden zu sehen. Die Blutstropfen waren am Rand schon eingetrocknet, in der Mitte jedoch noch feucht.
Ich machte einen Schritt zurück und deutete mit der Hand eine Linie an. »Dort, auf dem Boden des Balkons, haben wir Blutstropfen. Dort, direkt davor auf der Brüstung, habe ich das hier gefunden.« Ich hielt das rote Teilchen vorsichtig zwischen Zeigefinger und Daumen. »Und direkt darunter ist die Stelle, wo Sextus Roscius auf die Treppe aufgeschlagen ist.«
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Rufus.
»Sag mir erst dies: Wer war heute abend sonst noch auf diesem Balkon?«
»Nur Roscia und ich, soweit ich weiß. Und natürlich Sextus Roscius.«
»Keiner der Sklaven? Oder Roscius’ Frau?«
»Das glaube ich nicht.«
»Nicht einmal Caecilia?«
Rufus schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir ganz sicher. Als ich ihr die schlechte Nachricht überbrachte, sagte sie, sie wolle nicht einmal in die Nähe dieses Flügels kommen. Sie hat ihren Sklaven befohlen, Sextus’ Leiche zur rituellen Reinigung in ihr Privatheiligtum zu bringen.«
»Ich verstehe. Kannst du mich jetzt zur Leiche bringen?«
»Aber Gordianus«, flehte Tiro, »was hast du entdeckt?«
»Daß Roscia ihren Vater nicht ermordet hat.«
Seine Stirn glättete sich, aber sie bewölkte sich gleich wieder mit neuem Zweifel. »Aber wenn er gesprungen ist, wie erklärst du dir dann das Blut?«
Ich legte die Finger auf meine Lippen. Tiro verfiel gehorsam in Schweigen, aber ich hatte ihm gar nicht andeuten wollen, den Mund zu halten; ich hatte nur abergläubisch das kleine Teil geküßt, das ich noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und gebetet, daß ich mich nicht irrte.
Die Türen zum Heiligtum von Caecilias Göttin waren fast verschlossen, aber der Duft von Weihrauch und das Klagegeschrei ihrer Sklavinnen drangen trotzdem auf den Flur. Ahausarus stand Wache und schüttelte finster den Kopf, als wir versuchten, den Raum zu betreten. Rufus packte meinen Arm und hielt mich zurück.
»Halt, Gordianus. Du kennt doch die Regeln in Caecilias Haus. Männer
dürfen das Heiligtum der Göttin nicht betreten. «
»Es sei denn, sie sind tot?« blaffte ich ihn an.
»Sextus Roscius, der Sohn des Sextus Roscius, ist von der Göttin gerufen
worden«, säuselte Caecilia, die auf einmal hinter uns stand. »Sie hat ihn an ihren Busen gerufen.«
Ich drehte mich um und sah eine verwandelte Frau. Caecilia stand sehr gerade, den Kopf stolz zurückgeworfen. Anstatt ihrer Stola trug sie ein weites, bauschiges Gewand, das in tiefstem Schwarz gefärbt war. Ihr Haar war für die Nacht gelöst und fiel in langen wallenden Locken auf ihre Schultern. Die verschiedenen Schichten Schminke waren weggewischt. Faltig und ramponiert legte sie nichtsdestoweniger eine Vitalität und Entschlossenheit an den Tag, die ich bei ihr nie zuvor erlebt hatte. Sie schien weder wütend noch erfreut, uns zu sehen, als ob unsere Gegenwart ohne Bedeutung für sie wäre.
»Die Göttin mag Sextus Roscius zu sich gerufen haben«, sagte ich, »aber ich würde, wenn ich darf, Caecilia Metella, trotzdem sehr gerne seine unsterblichen Überreste untersuchen.«
»Was für ein Interesse könntest du an seiner Leiche haben?«
»Es ist ein Zeichen, nach dem ich suche. Vielleicht ist es ja das Zeichen der Göttin, die ihn zu sich gerufen hat.«
»Sein ganzer Körper ist verdreht, alle Knochen sind gebrochen«, sagte Caecilia. »Er ist so übel zugerichtet, daß man keine einzelnen Wunden mehr erkennen kann.«
»Aber ich habe sehr scharfe Augen«, sagte ich und sah sie direkt an, ohne den Blick von ihr zu wenden.
Caecilia trat neben mich, betrachtete mich von der Seite und gab schließlich nickend ihr Einverständnis. »Ahausarus! Sag den Mädchen, sie
sollen Sextus Roscius’ Leiche in den Flur bringen.« Der Eunuch öffnete die Tür und schlüpfte ins Zimmer.
»Sind sie stark genug?« fragte ich.
»Sie waren stark genug, ihn die Treppe hoch durch die Flure bis in diesen Raum zu tragen. Heute ist Vollmond, Gordianus. Die Macht der Göttin beseelt sie mit einer Kraft, die sie jedem Mann überlegen macht.«
Kurz darauf gingen die Türen des Heiligtums auf. Sechs Sklavinnen trugen eine Bahre in den Flur und setzten sie ab.
Tiro gab ein zischendes Geräusch von sich und wich zurück. Selbst Rufus, der die Leiche bereits gesehen hatte, stockte beim Anblick dessen, was von Sextus Roscius übriggeblieben war, der Atem. Man hatte ihn völlig entkleidet. Das Tuch, auf dem er lag, war blutdurchtränkt. Sein ganzer Körper war mit Prellungen und Platzwunden übersät. Zahlreiche Knochen waren gebrochen; an einigen Stellen ragten sie aus dem zerfetzten Fleisch. Man hatte versucht, seine Gliedmaßen zu richten, aber sein zertrümmerter Schädel war nicht zu verbergen. Offenbar war er mit dem Kopf zuerst gelandet. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, seine Schädeldecke war eine Masse aus Blut und Schleim, die von Knochenfragmenten zusammengehalten wurde. Unfähig, den Anblick zu ertragen, wandte Tiro sich ab, und Rufus senkte den Blick. Caecilia betrachte die Leiche ungerührt und ausdruckslos.
Ich kniete nieder und schob das zertrümmerte Kinn beiseite. Mit dem Finger fuhr ich an seinem Hals entlang, an Blutergüssen und -klumpen, bis ich ertastete, wonach ich gesucht hatte. »Rufus, sieh her, und du auch, Tiro. Seht ihr die Stelle, auf die mein Finger zeigt, das Loch in dem weichen Fleisch direkt unter dem Kehlkopf?«
»Sieht aus wie eine Stichwunde«, meinte Rufus.
»Ja«, sagte ich, »wie von einem sehr spitzen, schlanken Gegenstand. Und wenn wir ihn auf die Seite drehen - komm, Rufus, faß mit an - werden wir, glaube ich, in seinem Nacken genau die gleiche Wunde entdecken. Ja, da, seht ihr - direkt neben dem Rückgrat.«
Ich stand auf und wischte meine blutigen Hände an einem Tuch sauber, das mir eine der Sklavinnen reichte. Ich würgte einen Anfall von Ekel herunter und holte tief Luft. » Eine eigenartige Wunde, meinst du nicht auch, Caecilia Metella? So ganz und gar nicht in Einklang zu bringen mit einem Sturz von einem Balkon und eine Treppe hinab. Auch nicht die Art Wunde, die ein Messer hinterlassen würde. Die Waffe scheint direkt durch den Hals gegangen zu sein -vorne rein und hinten wieder raus oder umgekehrt, wer weiß? Ein so spitzer, schlanker Gegenstand aus Metall, daß man den Hals damit durchstoßen und ihn hinterher wieder herausziehen konnte. Und eine so saubere Wunde, daß nur wenige Tropfen Blut auf den Boden des Balkons gefallen sind. Sag mir, Caecilia, war dein Haar schon offen, als du Sextus Roscius auf dem Balkon getroffen hast? Oder war es noch mit einer dieser langen Silbernadeln hochgesteckt, die du zu tragen pflegst?«