Es spielte keine Rolle. In einer so merkwürdigen Nacht hätte sich ein Nachttopf in einen Pilz verwandeln oder in Luft auflösen können, und es wäre mir wie eine Bagatelle vorgekommen. Ich empfand dasselbe
Fremdheitsgefühl wie zuvor, als ich mit Bethesda in der Halle gelegen hatte. Ich sah und spürte alles um mich herum mit absoluter Klarheit, und doch kam es mir vor wie unheimliches und unvertrautes Gelände, als ob der Mond die Farbe gewechselt hätte, als ob die Götter gen Himmel aufgestiegen wären und die Erde im tiefen Schlaf sich selbst überlassen hätten. Alles Mögliche konnte geschehen.
Ich schob den Vorhang beiseite und trat ins Atrium. Vielleicht war ich doch noch nicht wach und schlafwandelte nur, denn das Haus besaß jene Unwirklichkeit vertrauter Orte, die durch die Geographie der Nacht in eine Schräglage gebracht worden waren. Blaues Mondlicht durchflutete den Garten und verwandelte ihn in einen Dschungel von Knochen, die messerscharfe Schatten warfen. Im Säulengang waren vereinzelte Lampen weit heruntergebrannt. Hinter der Mauer, die die Halle verdeckte, brannte die hellste Lampe von allen und warf ein schwach gelbes Licht um die Ecke wie ein Lagerfeuer hinter einem Bergkamm.
Ich ging zu der Ecke des Gartens und raffte meine Tunika. Wie ein Schuljunge erleichterte ich mich fast geräuschlos, indem ich auf das weiche Gras zielte. Als ich fertig war, ließ ich meine Tunika wieder sinken und meinen Blick über das Knochenfeld wandern, das durch den Schatten einer vorbeiziehenden Wolke in die eingeäscherten Ruinen Karthagos in einer mondlosen Nacht verwandelt worden war.
Inmitten der Gerüche von Erde, Urin und Hyazinthen witterte ich einen Knoblauchhauch in der warmen Luft. Der Schein der Lampe in der Halle flackerte, bewegte sich und warf den schwankenden Schatten eines Mannes auf die Außenwand von Bethesdas Zimmer.
Wie eine Traumfigur ging ich zur Halle, wie im Traum schien ich auch unsichtbar zu sein. Eine helle Lampe stand auf dem Boden und warf merkwürdige Schatten nach oben. Rotbart stand vor der beschmierten Wand mit der bedrohlichen Botschaft, wobei er mit einer Hand über die Oberfläche strich. Seine Hand war mit einem rotgefleckten Tuch umwickelt, aus dem etwas Dunkles und Dickflüssiges zu Boden tropfte. Seine andere Hand hielt den Dolch umklammert, dessen blitzende Klinge blutverschmiert war.
Die Tür zum Haus stand weit offen. Dagegen gelehnt, als solle er sie offenhalten, lag der riesige Körper von Zoticus, seine Kehle so tief durchgeschnitten, daß der Kopf sich fast ganz vom Körper gelöst hatte. Eine riesige Blutlache war aus seinem Hals auf den Steinboden geflossen. Der Teppich war völlig durchgeweicht. Ich beobachtete, wie Rotbart sich bückte, um das Tuch in die Blutlache zu tauchen, wobei er seinen Blick nie von der Wand nahm, als wäre er ein Künstler und die Wand das Bild, an dem er gerade arbeitete. Er machte einen Schritt nach vorn und schrieb weiter.
Dann drehte er sich ganz langsam um und sah mich.
Jetzt erwiderte er das Lächeln, das ich ihm zuvor geschenkt hatte, mit einem furchtbaren, klaffenden Grinsen.
Er mußte sich in Sekundenschnelle auf mich gestürzt haben, obwohl es mir so vorkam, als würde er sich mit einer nachdenklichen und unmöglichen Langsamkeit bewegen. Ich hatte alle Zeit der Welt zu beobachten, wie er den Dolch hochriß, den plötzlichen Knoblauchschwall in meiner Nase zu spüren, über das angespannte, zuckende Grinsen in seinem Gesicht zu grübeln und mich töricht zu fragen, welchen Grund er haben konnte, mich so wenig zu mögen.
Mein Körper war klüger als mein Hirn. Irgendwie war es ihm gelungen, das Handgelenk des Angreifers zu packen und den Dolch abzulenken. Er kratzte mir kaum wahrnehmbar über die Wangen und hinterließ eine schmale rote Spur, die ich erst viel später spürte. Plötzlich war ich platt an die Wand gedrückt und die Luft aus mir herausgetrieben, so verwirrt, daß ich einen Moment lang glaubte, ich läge flach auf dem Boden und das volle Gewicht von Rotbarts Körper lastete auf meiner Brust.
Mit einer gewundenen Drehung taumelten wir zu Boden wie aus dem Tritt gekommene Akrobaten. Wie in der Brandung von den Füßen gerissene Ertrinkende rollten wir umher, so daß ich nie wußte, wo unten und oben war. Die Spitze des Dolches kitzelte meine Kehle, aber es gelang mir jedesmal, dem Stoß seines Arms im letzten Moment eine andere Richtung zu geben. Er war geradezu lächerlich stark, mehr wie ein Sturm oder eine Lawine als wie ein Mann. Im Kampf mit ihm kam ich mir vor wie ein kleiner Junge. Ich hatte keine Hoffnung, ihn zu besiegen. Ich konnte nur versuchen, von einem zum nächsten Moment zu überleben.
Plötzlich fiel mit Bethesda ein, und ich wußte, daß sie bereits tot sein mußte, genau wie Zoticus. Warum hatte er mich bis zum Schluß geschont? Und dann sauste auf einmal ein Knüppel auf Rotbarts Schädel nieder.
Während er über mir schwankte, nahm ich hinter seiner Schulter für einen Moment Bethesda wahr. In der Hand hielt sie den Holzbalken, mit dem die Tür verriegelt wurde. Er war so schwer, daß sie ihn kaum schwingen konnte. Sie wollte erneut ausholen, geriet jedoch unter seinem Gewicht ins Stolpern und taumelte rückwärts. Rotbart kam wieder zu Sinnen. Blut rann aus einer Platzwunde am Hinterkopf und tropfte auf seinen Bart und seine Lippen, was ihm das Aussehen eines tollwütigen Tieres im Blutrausch verlieh. Er kämpfte sich auf die Knie, fuhr herum und hob seinen Dolch. Ich schlug gegen seine Brust, brachte jedoch nicht die nötige Kraft auf.
Bethesda stand aufrecht mit erhobenem Balken. Rotbart stach mit dem Dolch zu, schlitzte jedoch nur ihr Gewand auf. Rasch drehte er sich in die andere Richtung und bekam mit der freien Hand einen Fetzen zu fassen. Er zog heftig daran, und Bethesda fiel nach hinten. Der Balken sauste mit der ganzen Kraft seines eigenen Gewichtes nach unten. Ob mit Absicht oder zufällig, er traf Rotbart jedenfalls direkt auf dem Kopf, und als er über mir zusammenbrach, packte ich seinen zustechenden Arm und richtete ihn gegen seine eigene Brust.
Die Klinge versank bis zum Knauf in seinem Herz. Sein Gesicht war direkt über mir, er verdrehte die Augen und klappte den Mund auf. Knoblauchgestank und der Geruch seiner faulen Zähne schlug mir entgegen. Ich rollte mich hastig zur Seite, während er einen verzweifelten rasselnden Atemzug machte. Dann zuckte er heftig und sank in sich zusammen, als sei irgend etwas in ihm explodiert. Einen Augenblick später schoß ein Blutschwall aus seinem offenen Mund.
Irgendwo ganz weit weg schrie Bethesda. Ein großes, massives totes Etwas lag schwer auf mir, zuckend und Galle ausstoßend, bis meine Augen blind und Nase und Mund bedeckt, ja selbst meine Ohren verstopft waren. Ich versuchte, mich freizustrampeln, lag jedoch hilflos da, bis Bethesda mir zur Hilfe kam. Schließlich rollte die massive Leiche auf den Rücken und starrte mit hängendem Kinn zur Decke.
Ich kämpfte mich auf die Knie. Wir klammerten uns aneinander, beide so heftig zitternd, daß wir uns kaum umarmen konnten. Ich spuckte Blut und schnaubte und wischte mir das Gesicht am Oberteil ihres sauberen weißen
Gewands ab. Wir streichelten uns und stammelten sinnlose Worte des Trostes wie Überlebende einer gewaltigen Verwüstung.
Die Lampe brannte zischend nieder und warf zitternd groteske Schatten an die Wand, so daß es aussah, als ob die unbeweglichen Leichen noch zuckten. Die eigenartige Geographie der Nacht jedoch war ungebrochen: Wir waren Liebende aus einem Gedicht, die sich nackt und halbnackt auf Knien an einem großen, stillen See umarmten. Nur daß der See aus Blut war - so viel Blut, daß ich mein Spiegelbild darin sehen konnte. Ich starrte mir in die Augen und kam mit einem Schock zur Besinnung. Mir wurde endlich bewußt, daß ich mich nicht in einem Alptraum befand, sondern mitten im Herzen der großen, schlummernden Stadt Rom.