Ich warf einen Blick auf die Sonnenuhr. Uns blieb noch eine halbe Stunde, bevor die junge Roscia ungeduldig werden würde. Ich verabschiedete mich von Rufus und Cicero und legte meine Hand auf Tiros Schulter, als wir das Haus verließen. Hinter mir hörte ich, wie sich Cicero sofort wieder in seine Rede stürzte und Rufus mit seiner Lieblingsstelle ergötzte: »Denn welcher Wahnsinnige, welcher zutiefst verdorbene Auswurf der Menschheit, bringt über sich und sein Haus solchen Fluch nicht nur der Menschen, sondern auch der Götter? Ihr wißt, werte Römer...« Ich sah mich um und beobachtete, wie Rufus jedem Wort und jeder Geste mit einem Blick atemloser Bewunderung folgte.
Erst jetzt fiel mir auf, daß Cicero, bevor wir gingen, kein Wort zu Tiro gesagt hatte und ihn nur mit einem kühlen Nicken entlassen hatte, als er sich zum Gehen wandte. Welche Worte auch immer zwischen ihnen wegen Tiros Benehmen gefallen waren, ich erfuhr sie nicht, weder von Tiro noch von Cicero; und Cicero erwähnte die Affäre, zumindest in meiner Gegenwart, nie wieder.
*
Tiro war schweigsam, als wir das Forum überquerten und den Palatin hinaufstiegen. Als wir uns dem Ort des Stelldicheins näherten, wurde er zusehends nervöser, und seine Miene so finster wie die Maske eines Schauspielers. Als wir in Blickweite des kleinen Parks waren, faßte er meinen Ärmel und blieb stehen.
»Kann ich sie zuerst allein treffen, nur einen Moment? Bitte?« fragte er mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen wie ein Sklave, der um Erlaubnis bittet.
Ich atmete tief ein. »Ja, sicher. Aber nur einen Moment. Und sag nichts, was sie in die Flucht treiben könnte.« Ich stand im Schatten eines Weidenbaumes und beobachtete, wie er mit schnellen Schritten auf den Durchgang zwischen den hohen Mauern der angrenzenden Villen zuging. Er verschwand im Buschwerk, versteckt von Eiben und wild wuchernden Rosen.
Was er ihr in dieser grünen Laube sagte, weiß ich nicht. Ich hätte ihn fragen können, aber das tat ich nicht, und er kam nie von sich aus darauf zu sprechen. Vielleicht hat Cicero ihn später verhört und die Details erfahren, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Manchmal hat sogar ein Sklave ein Geheimnis, wenn es ihm schon verwehrt bleibt, sonst etwas auf dieser Welt zu besitzen.
Ich wartete nicht lange, kürzer als ich geplant hatte; in jedem Augenblick, der verstrich, sah ich das Mädchen vor meinem inneren Auge durch den entfernten Ausgang des Parks fliehen, bis ich nicht länger stehenbleiben konnte. Einen passenden Moment, ihr die Wahrheit zu entlocken, würde es nicht geben, doch dies war die beste Gelegenheit, auf die ich hoffen konnte.
Der kleine Park war schattig und kühl, aber stickig von Staub. Staub lag auf den verdorrten Rosen- und Efeublättern, die sich an den Mauern hochrankten. Staub stieg vom Boden auf, wenn man seine Schritte auf die dünnen und vertrockneten Stellen im Gras setzte. Zweige knackten und Blätter raschelten, als ich mir einen Weg durch das Gebüsch bahnte; sie hörten mich kommen, obwohl ich bemüht war, möglichst leise zu sein. Ich erspähte sie durch das Gestrüpp und stand im nächsten Moment vor der steinernen Bank, auf der sie nebeneinander Platz genommen hatten. Das Mädchen starrte mich mit den Augen eines verängstigten Tieres an. Sie wäre davongestürzt, wenn Tiro sie nicht fest am Handgelenk gepackt hätte.
»Wer bist du?« Sie starrte mich wütend an und verzog das Gesicht, während sie versuchte, sich loszureißen. Dann sah sie Tiro an, der ihren Blick jedoch nicht erwiderte, sondern statt dessen stur geradeaus ins Gebüsch guckte.
Dann saß sie auf einmal völlig still, doch ich konnte in ihren Augen erkennen, daß sie panisch und fieberhaft nachdachte. »Ich werde schreien«, sagte sie ruhig. »Wenn es sonst niemand hört, die Wachen vor Caecilias Haus hören es bestimmt. Sie kommen, wenn sie mich schreien hören.«
»Nein«, sagte ich mit sanfter Stimme und trat einen Schritt zurück, um sie zu beruhigen. »Du wirst nicht schreien. Du wirst reden.«
»Wer bist du?«
»Du weißt, wer ich bin.«
»Ja, das stimmt. Du bist der, den sie den Sucher nennen.«
»Genau. Und du bist gefunden worden, Roscia Majora.«
Sie biß sich auf die Lippe, und ihre Augen wurden schmal. Es war erstaunlich, wie unfreundlich das Gesicht eines so hübschen Mädchens aussehen konnte. »Ich weiß nicht, was du meinst. Nun gut, du hast mich gemeinsam mit diesem Sklaven hier auf dieser Bank sitzend angetroffen - es ist Ciceros Sklave, nicht wahr? Er hat mich hierhergelockt, hat gesagt, er hätte eine Botschaft von seinem Herrn für meinen Vater -«
Sie sprach nicht in jenem zögernden Ton, in dem man sich eine Lüge zur späteren Verwendung formulierend zurechtlegt, sondern so, als wäre das, was sie sich im Moment zusammenphantasierte, die reine Wahrheit. Ich sah, daß sie eine erfahrene Lügnerin war. Tiro wollte ihr nach wie vor nicht in die Augen sehen. »Bitte, Gordianus«, flüsterte er, »kann ich jetzt gehen?«
»Auf gar keinen Fall. Ich brauche dich hier, um mir zu sagen, wenn sie lügt. Außerdem bist du mein Zeuge. Wenn du mich jetzt mit ihr allein läßt, erfindet sie womöglich noch schmutzige Geschichten über mein Benehmen.«
»Ein Sklave kann kein Zeuge sein«, zischte sie mich an.
»Natürlich kann er das. Vermutlich unterrichtet man Bauerntöchter aus Ameria nicht in den Feinheiten des römischen Rechts, oder doch? Ein Sklave ist ein absolut zuverlässiger Zeuge, solange seine Aussage unter der Folter zustande kommt. Das Gesetz verlangt sogar ausdrücklich, daß ein Sklave, der als Zeuge auftritt, gefoltert werden muß. Ich hoffe also, du fängst nicht an zu schreien und irgendwelchen Unsinn zu erfinden, Roscia Majora. Selbst wenn du für Tiro nichts als Verachtung übrig hast, möchtest du doch sicher nicht dafür verantwortlich sein, daß man ihn auf die Folterbank spannt und ihn mit glühenden Eisen verbrennt.«
Sie starrte mich wütend an. »Ein Ungeheuer, das bist du, genau wie all die anderen. Wie ich euch alle verachte.«
Meine Antwort kam mir wie selbstverständlich auf die Lippen, aber ich zögerte lange, weil ich wußte, daß es, wenn sie erst ausgesprochen war, kein Zurück mehr gab. »Doch vor allem deinen Vater.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Ihr Atem hatte einen Moment gestockt, und die Wut, die wie ein Schutzschild auf ihrem Gesicht lag, war von einem Moment zum nächsten dem darunter liegenden Schmerz gewichen. Sie war noch immer ein Kind, trotz all ihrer Ausgekochtheit. Sie verschränkte die Finger, versuchte, sich erneut mit einem Panzer aus Bitterkeit zu schützen, was ihr jedoch nur halb gelang. Es war, als ob sie halbnackt wäre, als sie schließlich weitersprach, mit unverschämter Feindseligkeit, zugleich aber mit schmerzlich entblößter Verletzlichkeit.
»Was willst du?« flüsterte sie heiser. »Warum bist du hierhergekommen? Warum kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen? Sag was, Tiro.« Sie griff nach dem Arm, der noch immer ihr Handgelenk gepackt hielt, und begann, ihn zärtlich zu streicheln, wobei sie erst Tiro ansah, bevor sie ihren Blick demütig senkte. Die Geste wirkte gleichzeitig berechnend und ehrlich, voller Hintergedanken, aber auch voller Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Tiro lief bis zu den Haarwurzeln rot an. An seinen weißen Fingerknöcheln und der plötzlichen Grimasse, die Roscia zog, erkannte ich, daß er, vielleicht sogar ohne es zu merken, ihr Handgelenk schmerzhaft zusammenpreßte.
»Sag was, Tiro«, keuchte sie, und kein Mann hätte mit Sicherheit sagen können, ob die Tränen in ihrer Stimme echt waren oder nicht.
»Tiro hat mir schon genug gesagt.« Ich sah sie direkt an, verschloß jedoch die Augen vor dem Schmerz in ihrem Gesicht. Ich ließ meine Stimme kalt und hart klingen. »Mit wem triffst du dich, wenn du Caecilias Haus verläßt - ich meine, außer mit Tiro? Ist dies der Ort, wo du die Geheimnisse deines Vaters an die Wölfe weitergibst, die ihn bei lebendigem Leib geschunden sehen wollen? Sag es mir, du dummes Kind! Welche Belohnung konnte dich dazu verleiten, dein eigen Fleisch und Blut zu verraten?«