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»Mein eigen Fleisch und Blut!« kreischte sie. »Mein eigen Fleisch und Blut? Ich hab kein Fleisch! Das ist das Fleisch meines Vaters, das hier!« Sie riß sich aus Tiros Umklammerung los und kniff sich in eine Handvoll Fleisch am Oberarm. »Dieses Fleisch, das ist sein Fleisch!« wiederholte sie, hob den Saum ihres Gewands, um mir ihre nackten, weißen Beine zu zeigen, und kniff sich in die strammen Muskeln, als könne sie ihr Fleisch von den Knochen zupfen. »Und das, und das! Nicht meins, sondern seins!« schrie sie und kniff sich in die Wangen und Hände und zerrte an ihren Haaren. Als sie den Kragen ihres Gewandes aufreißen wollte, um ihre Brüste bloßzulegen, gebot Tiro ihr Einhalt. Er wollte sie umarmen, aber sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

»Verstehst du?« Ihr ganzer Körper bebte, als weine sie, aber aus ihren funkelnden, fiebrigen Augen flössen keine Tränen.

»Ja«, sagte ich. Tiro saß neben ihr und schüttelte noch immer verwirrt den Kopf.

»Verstehst du es wirklich?« Eine einzelne Träne rann über ihre Wange.

Ich schluckte und nickte langsam. »Wann hat es angefangen?«

»Als ich in Minoras Alter war. Deswegen -« Sie schluchzte auf und konnte nicht weitersprechen.

»Minora - die Kleine, deine Schwester?«

Sie nickte. Endlich begriff auch Tiro. Seine Lippen zitterten, und sein Blick wurde düster.

»Und das ist deine Rache - seinen Feinden zu helfen, wo du nur kannst.«

»Lügner! Du hast doch gesagt, du verstehst! Keine Rache - Minora...«

»Dann um deine kleine Schwester vor ihm zu retten?«

Sie nickte und wandte voller Scham ihr Gesicht ab. Tiro beobachtete sie mit einem Ausdruck völliger Hilflosigkeit, zappelte mit den Händen, als ob er sie berühren wollte, sich aber nicht traute. Ich konnte es nicht ertragen, beide auf einmal anzuschauen, und wandte meinen Blick in den leeren, endlosen, brütenden Himmel über mir.

Ein Luftzug, dem sich die Blätter erst raschelnd entgegenstellten, bevor sie sich ergaben, wehte durch den Park. Irgendwo weit weg rief eine Frau, dann war es wieder völlig ruhig. Inmitten der Stille konnte man noch immer das entfernte Murmeln der unter uns liegenden Stadt hören. Über uns flog ein einzelner Vogel und teilte den Himmel.

»Wie sind sie an dich herangetreten? Woher haben sie es gewußt?«

»Ein Mann... es war hier... eines Tages.« Sie schluchzte nicht mehr, aber ihre Stimme war dünn und brüchig. »Seit unserer Ankunft in der Stadt bin ich jeden Nachmittag hierhergekommen. Es ist der einzige Ort, der mich an zu Hause erinnert, an das Land. Eines Tages kam ein Mann - sie müssen Caecilias Haus beobachtet haben, und sie wußten, daß ich seine Tochter war. Zuerst hat er mir angst gemacht. Dann haben wir geredet. Geplaudert, wie er es nannte, damit es harmloser klang, als er über meinen Vater redete, als sei er nur ein neugieriger Nachbar. Er muß sich ja für so raffiniert gehalten haben oder mich für blöde, nach den Fragen zu urteilen, die er stellte. Er hat mir eine alberne kleine Halskette angeboten, von der Sorte, wie sie Caecilia auf den Müll geworfen hätte. Ich hab ihm gesagt, er soll sie wegstecken und aufhören, mich zu beleidigen. Ich hab ihm erklärt, daß ich nicht blöd bin und genau wüßte, was er wollte. Oh, nein, nein, sagte er und machte dermaßen ein Theater, daß ich ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte. Ich hab ihm gesagt, er soll damit aufhören, einfach aufhören! Ich wüßte, was er wollte, daß er von Capito oder Magnus käme. Doch er tat so, als hätte er noch nie von ihnen gehört. Es ist mir egal, hab ich ihm erklärt. Ich weiß, was du willst. Und ich werde dir helfen, wo immer ich kann. Dann hat er es endlich kapiert. Du hättest sein Gesicht sehen sollen.«

Ich starrte in das Efeu über ihrem Kopf, in die dichte, staubbedeckte Dunkelheit, die Domäne der Wespen und Schnecken und zahlloser kleinerer Lebewesen, die sich gegenseitig verschlangen und wiederverschlangen. »Und du kommst noch immer jeden Nachmittag hierher.«

»Ja.«

»Und triffst noch immer denselben Mann.«

»Ja. Und dann schick ich ihn weg, damit ich allein sein kann.«

»Und du erzählst ihm alles.«

»Alles. Was mein Vater zum Frühstück gegessen Hat. Was mein Vater in der Nacht davor im Bett zu meiner Mutter gesagt hat, als ich an der Tür gelauscht habe. Jedesmal, wenn Cicero oder Rufus kommen und was sie sagen.«

»Und all die kleinen Geheimnisse, die du Tiro entlocken kannst.«

Sie zögerte nur einen Moment lang. »Ja, das auch.«

»Wie beispielsweise meinen Namen und den Grund, warum Cicero mich engagiert hat?«

»Ja.«

»Und die Tatsache, daß ich Cicero gebeten habe, einen Wächter für mein Haus zu mieten?«

»O ja. Das war gerade gestern. Darüber hat er mich ganz besonders ausgiebig befragt. Er wollte ganz genau wissen, was Tiro mir erzählt hatte, bis in jede Einzelheit.«

»Und du bist natürlich sehr gut darin, die genauen Einzelheiten mitzubekommen und zu behalten.«

Sie sah mich direkt an. Ihre Gesichtszüge waren wieder hart geworden. »Ja. Sehr gut. Ich vergesse nichts. Gar nichts.«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber was hast du damit gewonnen? Was ist mit deinem eigenen Leben? Welche Zukunft hast du ohne deinen Vater?«

»Auch keine schlimmere als meine Vergangenheit, nicht schrecklicher als all die Jahre, in denen er mich gezwungen hat... all die Jahre, in denen ich seine... «

Tiro versuchte erneut, sie zu trösten, und wieder stieß sie ihn weg.

»Aber selbst wenn du ihn mit so mörderischem Haß verabscheust, was für ein Leben erwartet dich, dich und deine Mutter und die kleine Minora, wenn diese Sache ihren Lauf nimmt? Ohne jemanden, an den ihr euch wenden könnt, zu einem Dasein als Bettler verdammt -«

»Bettler sind wir jetzt schon.«

»Aber vielleicht spricht man deinen Vater ja frei. Wenn das geschieht, besteht die Chance, daß er mit unserer Hilfe wieder als rechtmäßiger Besitzer seiner Güter eingesetzt wird.«

Sie fixierte mich mit einem harten Blick und überlegte, was ich gesagt hatte, erwog es mit ausdrucksloser Miene. Dann sprach sie ihr Urteil. »Das macht keinen Unterschied. Wenn du mich vor die Wahl stellen würdest zu tun, was ich getan habe, oder zu dem Leben zurückzukehren, das ich vorher gelebt habe, würde es mir trotzdem nicht leid tun. Ich würde es genauso wieder tun. Ich würde ihn verraten, wo ich könnte. Ich würde alles tun, um seinen Feinden zu helfen, ihm den Tod zu bringen. Jetzt hat er es schon auf sie abgesehen. Ich kann es daran erkennen, wie er sie ansieht, wenn meine Mutter den Raum verläßt. Dieser Ausdruck in seinen Augen - manchmal sieht er Minora und mich an, und dann lächelt er. Kannst du dir das vorstellen? Er lächelt, um mir zu zeigen, daß er weiß, daß ich es verstanden habe. Er lächelt, um mich an all die Male zu erinnern, wo er mit mir sein Vergnügen gehabt hat. Er lächelt bei dem Gedanken an das Vergnügen, das er noch jahrelang mit Minora haben könnte. Selbst jetzt, wo sein Leben fast vorüber ist, denkt er daran. Vielleicht ist es das einzige, woran er denkt. Bisher hab ich ihn von ihr ferngehalten - ich belüge und betrüge ihn, und einmal habe ich ihn mit einem Messer bedroht. Aber weißt du, was ich glaube? Wenn sie ihn zum Tode verurteilen, wird es das letzte sein, was er noch zustande bringt. Selbst wenn er es vor den Augen seiner Henker tun muß, wird er einen Weg finden, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sich in sie zu drängen.«

Sie zitterte und schwankte, als würde sie ohnmächtig werden. In ihrer Hilflosigkeit erlaubte sie Tiro, ihre Schultern sanft zu umfassen. Ihre Stimme klang so entfernt und hohl, als käme sie direkt vom Mond. »Er lächelt, weil ein Teil von ihm immer noch nicht glaubt, daß sie ihn töten werden. Er glaubt, er wird ewig leben, und wenn das stimmt, gibt es für mich keine Hoffnung, ihn aufzuhalten.«