Ich schüttelte den Kopf. »Du haßt ihn so sehr, daß es dir egal ist, wen dein Verrat verletzt und wie viele Unschuldige du damit vernichtest. Wegen dir wäre ich jetzt schon zweimal fast umgebracht worden.«
Sie wurde blaß, jedoch nur für einen Moment. »Keiner, der meinem Vater hilft, ist unschuldig«, sagte sie dumpf. Tiros Umarmung begann sich zu lösen.
»Und jeder Mann darf deinen Körper besitzen, wenn er dir von Nutzen sein kann?«
»Ja! Ja, und ich schäme mich deswegen nicht! Mein Vater hat jedes Recht auf mich, sagt das Gesetz. Ich bin bloß ein Mädchen, ich bin nichts, ich bin der Dreck unter seinem Fingernagel, kaum besser als eine Sklavin. Welche Waffen stehen mir zur Verfügung? Was kann ich einsetzen, um Minora zu schützen? Nur meinen Körper. Und meinen Verstand. Also benutze ich sie.«
»Selbst wenn dein Verrat Tod bedeutet?«
»Ja! Wenn das der Preis ist - wenn andere sterben müssen.« Sie begann erneut zu weinen, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte. »Obwohl ich nie daran gedacht und nichts davon gewußt habe. Ich hasse nur ihn.«
»Und wen liebst du, Roscia Majora?«
Sie kämpfte gegen ihre Tränen. »Minora«, flüsterte sie.
»Und sonst niemanden?«
»Niemanden!«
»Was ist mit dem Jungen in Ameria, Lucius Megarus?«
»Woher weißt du von ihm?«
»Und mit Lucius’ Vater, dem braven Bauern Titus, dem besten Freund deines Vaters auf der ganzen Welt?«
»Das ist eine Lüge«, fuhr sie mich an. »Mit ihm ist nichts passiert.«
»Du meinst, du hast dich ihm angeboten, und er hat dich zurückgewiesen.« Ich war fast genauso überrascht wie Tiro, als sie es mit ihrem Schweigen eingestand. Er löste sich ganz von ihr. Sie schien es nicht zu bemerken.
»Wer ist sonst noch in den Genuß deiner Gunst gekommen, Roscia Majora? Weitere Sklaven in Caecilias Haus als Gegenleistung dafür, daß sie deinem Vater nachspioniert haben? Der Spion, der dich hier trifft, diese Kreatur des Feindes, was ist mit ihm? Was passiert, wenn du ihm die Informationen gegeben hast, die er verlangt?«
»Red keinen Unsinn«, sagte sie stumpf. Sie hatte aufgehört zu weinen und war jetzt nur noch trotzig.
Ich seufzte. »Tiro bedeutet dir gar nichts, was?«
»Nichts«, sagte sie.
»Er war nur ein Werkzeug, das du benutzt hast?«
Sie sah mir in die Augen. »Ja«, sagte sie. »Nichts weiter als das. Ein Sklave. Ein dummer Junge. Ein Werkzeug.« Sie sah ihn kurz an und wandte sich dann ab.
»Bitte -« setzte Tiro an.
»Ja«, sagte ich. »Du kannst jetzt gehen. Wir werden beide gehen. Es gibt nichts weiter zu sagen.«
Er versuchte nicht, sie noch einmal zu berühren oder sie auch nur anzusehen. Wir stapften durch das Gebüsch, bis wir in die Strahlen der inzwischen tiefer stehenden Sonne traten. Tiro schüttelte den Kopf und trat in den Boden. »Gordianus, verzeih mir«, begann er, aber ich unterbrach ihn.
»Jetzt nicht, Tiro«, sagte ich, so leise ich konnte. »Unser kleines Stelldichein ist noch nicht ganz vorüber. Ich vermute, daß man uns auch in diesem Augenblick beobachtet - nein, sieh dich nicht um; guck nach vorne und tu so, als würdest du nichts bemerken. Jeden Nachmittag, hat sie gesagt. Sie hat sich mit dem Mann bestimmt nicht vor dem Treffen mit dir verabredet, sondern hinterher. Er wartet noch bis wir gegangen sind. Folge mir bis zu dem Weidenbaum an der Ecke vor Caecilias Haus. Von dort sollten wir den Zugang zu Roscias Versteck unbemerkt beobachten können.«
Wir mußten nicht lange warten. Nur Augenblicke später huschte ein Mann in einer schwarzen Tunika über die Straße und verschwand in dem grünen
Hohlweg. Wir rannten zurück und bahnten uns einen Weg in das Grün, bis ich ihre Stimmen hörte. Ich machte Tiro ein Zeichen stehenzubleiben. Ich spitzte meine Ohren, konnte jedoch nur ein paar Worte verstehen, bevor ich Roscia durch eine Schneise zwischen den Eiben erblickte. Das Schicksal wollte es, daß auch sie mich entdeckte. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde schweigen, aber sie war bis zum Ende loyal gegenüber den Feinden ihres Vaters.
»Geh!« rief sie. »Lauf! Sie sind zurückgekommen!«
Man hörte das Geräusch eines durch das Blattwerk brechenden Körpers, als der Mann blindlings auf uns zugerannt kam.
»Nein!« rief sie. »Lauf in die andere Richtung.« Aber der Mann war zu erschrocken, um sie zu hören. Er lief mir geradewegs in die Arme, knallte mit dem Kopf gegen meinen und stieß mich zu Boden. Im nächsten Moment war er wieder auf den Beinen und schubste Tiro aus dem Weg. Tiro setzte ihm nach, aber die Verfolgung war zwecklos. Ich rannte den beiden nach und traf Tiro auf der Straße. Er hatte schweißüberströmt und mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck kehrtgemacht. Er hielt sich den Unterarm, den er sich an einem dornigen Rosenzweig aufgekratzt hatte.
»Ich hab’s versucht, Gordianus, aber ich hab ihn nicht erwischt.«
»Gut, sonst hättest du wahrscheinlich ein Messer zwischen die Rippen bekommen. Ich hab sein Gesicht genau genug gesehen.«
»Ja?«
»Ein bekanntes Gesicht in der Subura und auch auf dem Forum. Ein Mietling von Gaius Erucius, dem Ankläger. Das habe ich mir schon gedacht. Erucius schreckt vor nichts zurück, um an Beweismaterial zu kommen.«
Müde trotteten wir den Palatin hinab, und obwohl es bergab ging, schien der Weg lang und beschwerlich. Darüber, daß ich das Mädchen so hart ins Verhör genommen hatte, empfand ich eine tiefe und bittere Scham, aber ich hatte es um Tiros willen getan. Er hatte sie vorher geliebt; die Enthüllung ihres Leids hatte seine Liebe für sie noch wachsen lassen - ich hatte sie vor meinen Augen erblühen sehen. Eine solch hoffnungslose Leidenschaft konnte ihm nur nie endende Qual und Reue einbringen. Nur ihre Zurückweisung konnte ihn davon frei machen, also hatte ich mich bemüht, vor seinen Augen all ihre Verbitterung aufzuwühlen. Aber nun begann ich mich zu fragen, ob Roscia sich nicht vielleicht um Tiros willen mit mir verbündet hatte, denn der letzte Blick, den sie mir zugeworfen hatte, bevor sie zu reden begonnen hatte, hatte mir signalisiert, daß sie verstand, und als sie mit solch blanker Verachtung von Tiro gesprochen hatte, war das entweder die Wahrheit oder vielleicht das letzte zärtliche Geschenk, das sie ihm machen konnte.
24
Wir kehrten zu dem Haus auf dem Kapitolinischen Hügel zurück. Rufus war gegangen, Cicero ruhte, hatte jedoch Anweisung gegeben, daß man mich unverzüglich zu ihm vorlassen sollte. Während Tiro sich im Arbeitszimmer beschäftigte, führte mich der alte Tiro, der Türsteher, weiter ins Innere des Hauses in Regionen, die ich nie zuvor betreten hatte.
Ciceros Schlafkammer war ähnlich karg wie die, die er mir zugewiesen hatte. Die einzige Konzession an den Luxus yvar ein kleiner, privater Garten vor dem Zimmer, in dem ein winziger Brunnen sprudelte und schluchzte und in dessen sanften Wellen sich das nachdenkliche Gesicht der über ihm stehenden Minerva widerspiegelte. Ciceros Vorstellung von Ruhen bestand offenbar darin, statt im Stehen im Liegen weiterzuarbeiten. Ich traf ihn auf dem Rücken liegend und eine Schriftrolle studierend an. Weitere Rollen lagen verstreut auf dem Boden.
Ich berichtete ihm mit unterkühlten, schlichten Worten die Einzelheiten von Roscias Verrat - vom Mißbrauch ihres Vaters, ihrer Verbitterung, von der Arglist des Gaius Erucius, der die Verzweiflung des Mädchens zu seinem Vorteil genutzt hatte. Die Neuigkeiten schienen Cicero nicht im geringsten zu erschüttern. Er stellte ein paar Fragen, um Details klarzustellen, nickte, wenn er verstanden hatte, und wandte sich dann wieder seiner Lektüre zu, nachdem er mich mit einem knappen Wink entlassen hatte.
Ich blickte unsicher und verwirrt auf ihn herab und fragte mich, ob die Enthüllung von Roscius’ Charakter ihn völlig kaltlassen konnten. »Das bedeutet dir alles gar nichts?« sagte ich schließlich.