In einem perfekt geführten Haus dieser Art hätten wir uns als aufeinanderfolgende Freier derselben Hure nie begegnen dürfen, aber ein perfekt geführtes Haus dieser Art gab es nicht. Unser Gastgeber besaß zumindest den Anstand, sich zwischen uns beide zu stellen und erst dem Fremden zum Abschied zuzunicken, bevor er sich wieder zu mir umdrehte.
Sein breiter Körper gab einen beachtlichen Sichtschutz ab. »Nur noch einen Augenblick«, sagte er leise, »während die Dame sich ein wenig zurechtmacht.« Er ließ mich einen Moment allein und kehrte dann salbungsvoll lächelnd zurück. »Alles bereit«, sagte er und winkte mich in den Flur.
Elektra war noch immer genauso eindrucksvoll, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber um ihre Augen und den Mund hatte sich eine Müdigkeit gelegt, die einen Schatten auf ihre Schönheit warf. Sie saß auf dem Sofa, die Hände um ihr angewinkeltes Knie verschränkt, den Kopf mit ihrem wallenden schwarzen Haar auf ein Kissen gestützt. Zunächst erkannte sie mich nicht, was mir einen kleinen Stich der Enttäuschung versetzte. Dann leuchteten ihre Augen ein wenig auf, und sie fuhr sich kokett mit der Hand durch das Haar, als wolle sie ihre Frisur richten. Ich schmeichelte mir mit dem Gedanken, daß es ihr bei einem anderen Mann egal gewesen wäre, wie sie aussah, und fragte mich im selben Augenblick, ob das einer ihrer subtilen Tricks war, die sie bei jedem Mann anwandte.
»Du wieder«, sagte sie, noch immer schauspielernd, mit derselben glutvollen Stimme, mit der sie jeden hätte ansprechen können. Und dann ließ sie, als ob ihr endlich eingefallen wäre, warum ich schon einmal bei ihr gewesen war und wonach ich gesucht hatte, die Maske fallen und warf mir einen Blick von solcher nackter Verletzlichkeit zu, daß ich zitterte. »Diesmal bist du allein gekommen?«
»Ja.«
»Ohne deinen schüchternen, kleinen Sklaven?« Eine Spur Verruchtheit kehrte in ihre Stimme zurück, nicht einstudiert, sondern verspielt und heiter.
»Nicht nur schüchtern, sondern auch ungezogen. Meint jedenfalls sein Herr. Und zu beschäftigt, um mich heute zu begleiten.«
»Aber ich dachte, er gehört dir.«
»Nein.«
Ihr Gesicht wirkte auf einmal wieder ganz nackt. »Dann hast du mich angelogen.«
»Hab ich das? Nur darüber.«
Sie zog auch das andere Bein an ihre Brust, als wolle sie sich vor mir verstecken. »Warum bist du heute gekommen?«
»Um dich zu sehen.«
Sie lachte und zog eine Braue hoch. »Und gefällt dir, was du siehst?« Ihre Stimme klang wieder tief und falsch. Sie blieb genauso sitzen, aber ihre Pose wirkte auf einmal eher kokett als schutzbedürftig. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war sie mir stark und ursprünglich sinnlich vorgekommen, fast unzerstörbar. Ein Teil von mir hatte die Vorstellung, sie wiederzusehen, sehr erregend gefunden; aber jetzt tat mir ihre Schönheit irgendwie weh.
Sie zitterte und wandte den Blick ab. Die winzige Bewegung teilte ihr Gewand in Höhe der Schenkel. Auf der blassen, glatten Haut zeichnete sich ein schmaler Streifen ab, rot an den Rändern, violett in der Mitte. Irgend jemand hatte sie dort erst kürzlich geschlagen, denn der Striemen war noch nicht voll entwickelt. Der lächelnde Patrizier mit dem arroganten Gehabe fiel mir wieder ein.
»Hast du Elena gefunden?« Elektras Stimme hatte sich wieder verändert. Jetzt klang sie heiser. Sie hielt ihr Gesicht abgewandt, aber ich konnte es im Spiegel sehen.
»Nein.«
»Aber du hast herausgefunden, wer sie abgeholt hat und wohin.«
»Ja.«
»Geht es ihr gut? Ist sie in Rom? Und das Kind...« Sie beobachtete mich im Spiegel.
»Das Kind ist gestorben.«
»Ah.« Sie senkte den Blick.
»Bei der Geburt. Es war eine schwere Geburt.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Sie war selbst fast noch ein Kind mit ganz schmalen Hüften.« Elektra schüttelte den Kopf. Eine Strähne ihres Haars fiel ihr ins Gesicht. Als der Spiegel ihr Bild so festhielt, war sie auf einmal zu schön zum Anschauen.
»Wo ist es passiert?« fragte sie.
»ln einer kleinen Stadt. Ein bis zwei Tage nördlich von Rom.«
»Die Stadt, aus der Sextus Roscius stammte - Ameria, ist das der Name?«
»Ja, es geschah in Ameria.«
»Sie hat immer davon geträumt, dorthin zu kommen. Es hat ihr bestimmt gefallen, die frische Luft, die Tiere und Bäume.«
Ich dachte an die Geschichte, die Felix und Chrestus mir erzählt hatten, und mir wurde beinahe übel. »Ja, ein wunderschönes kleines Städtchen.«
»Und jetzt? Wo ist sie jetzt?«
»Elena ist gestorben. Nicht lange nach der Geburt. Die Geburt hat sie umgebracht.«
»Ah, nun denn. Dann wollte sie es so. Sie hat sich so auf das Kind gefreut.« Sie wandte mir ihre Seite zu und vergewisserte sich, daß ich sie nicht im Spiegel beobachten konnte. Wie lange war es her, daß Elektra einem Mann erlaubt hatte, sie weinen zu sehen? Nach einer Weile wandte sie sich wieder mir zu und ließ ihren Kopf gegen die Kissen sinken. Ihre Wangen waren nicht feucht, aber in ihren Augen glitzerten Tränen. Ihre Stimme war hart. »Du hättest mich anlügen können. Hast du je daran gedacht?«
»Ja.« Jetzt war ich es, der den Blick senkte, nicht aus Scham, sondern weil ich fürchtete, daß sie in meinen Augen die ganze Wahrheit lesen würde.
»Du hast mich schon einmal angelogen. Du hast gelogen, als du behauptet hast, der Sklavenjunge wäre deiner. Warum also nicht diesmal?«
»Weil du die Wahrheit verdienst.«
»Tu ich das? Bin ich so schrecklich? Du hättest mir erzählen können, daß Elena noch lebt und sehr glücklich ist, mit einem gesunden Baby an der Brust. Woher hätte ich wissen sollen, daß es eine Lüge ist? Statt dessen hast du mir die grausame Wahrheit erzählt. Was nützt mir die Wahrheit? Die Wahrheit ist wie eine Strafe. Verdiene ich sie wirklich? Bereitet dir das Vergnügen?« Tränen flössen über ihre Wangen.
»Verzeih mir«, sagte ich. Sie wandte sich ab und schwieg.
Ich verließ das Haus der Schwäne, drängte mich an den grinsenden Huren und lüsternen Freiern vorbei, die in der Halle herumlungerten. Der Besitzer schwebte lächelnd vorbei wie die groteske Charaktermaske aus einer Komödie. Auf der Straße blieb ich stehen, um zu Atem zu kommen. Einen Moment später kam der Mann mir brüllend und mit geballten Fäusten hinterhergerannt.
»Was hast du mit ihr angestellt? Warum weint sie so? Weint und will gar nicht wieder aufhören? Du brauchst nicht mehr wiederzukommen. Geh woanders hin. Such dir die Mädchen eines anderen, um deine schmutzigen, kleinen Spiele zu spielen.« Er stürmte ins Haus zurück.
Die Sonne ging unter. Ich spürte ein Nagen in der Magengrube, hätte jedoch keinen Bissen herunterbekommen. In der aufziehenden Dämmerung wurde die Luft dünn und kühl. Ich fand mich auf einmal vor dem Eingang der Pallacinischen Bäder wieder, den Lieblingsthermen des verstorbenen Sextus Roscius.
»Schwer was los heute«, sagte der junge Bedienstete, als er meine Kleidung in Empfang nahm. » In den letzten paar Tagen hatten wir praktisch gar keine Kundschaft - zu heiß. Heute abend besteht kein Grund zur Eile. Wir lassen länger auf, um den Verlust auszugleichen.« Er kam mit einem Badelaken zurück. Ich nahm es und sagte etwas, um ihn abzulenken, während ich das Handtuch über meinen linken Arm hängte und mich vergewisserte, daß es das Messer verdeckte. Selbst nackt hatte ich nicht die Absicht, mich unbewaffnet zu bewegen. Ich betrat das Kaldarium, und er schloß die Tür hinter mir.