Erucius wies mit dem Zeigefinger himmelwärts und verharrte sehr lange in dieser Pose. Seine Brauen waren zusammengezogen, und er starrte die Richter an wie ein wütender Stier. Er hatte von Jupiters Vergeltung gesprochen, aber wir hatten alle vernommen, daß Sulla selbst verärgert wäre, wenn das Urteil auf Nicht schuldig lautete. Die Drohung hätte nicht deutlicher sein können.
Erucius raffte die Falten seiner Toga, warf den Kopf zurück und drehte sich um. Die Menge applaudierte und jubelte nicht, als er von der Rostra hinabstieg. Statt dessen herrschte ein eisiges Schweigen.
Er hatte nichts bewiesen. Anstelle von Beweisen hatte er versteckte Anschuldigungen vorgetragen. Er hatte nicht an die Gerechtigkeit appelliert, sondern an die Angst. Seine Rede war ein furchtbares Flickwerk aus offenen Lügen und selbstgerechten Einschüchterungen. Und trotzdem, welcher Mann, der ihn an jenem Morgen von der Rostra hatte sprechen hören, konnte daran zweifeln, daß Erucius seinen Fall gewonnen hatte?
30
Cicero erhob sich und ging mit entschlossenen Schritten und mit wehender Toga zur Rostra. Ich warf einen Blick auf Tiro, der auf einem Daumennagel herumkaute, und Rufus, der, die Hände im Schoß gefaltet, dasaß und ein bewunderndes Lächeln kaum unterdrücken konnte.
Cicero trat auf die Rednertribüne, räusperte sich und hustete. Eine Welle der Skepsis erfaßte die Menge. Niemand hatte ihn je zuvor reden gehört; ein verpatzter Einstieg war ein schlechtes Zeichen. Auf der Anklägerbank schmatzte Erucius vernehmlich mit den Lippen und starrte demonstrativ in den Himmel.
Cicero räusperte sich noch einmal und begann von neuem. »Richter dieser Kammer: Wahrscheinlich wundert ihr euch, daß unter all den
ausgezeichneten Bürgern und hervorragenden Rednern, die in euren Reihen sitzen, ausgerechnet ich mich erhoben habe, um zu euch zu sprechen...«
»ln der Tat«, murmelte Erucius. Vereinzeltes Gelächter erhob sich.
Cicero machte unbeirrt weiter. »Gewiß kann ich mich in Alter, Talent oder politischem Gewicht nicht mit ihnen vergleichen. Gewiß jedoch halten auch sie es, genau wie ich, für recht und billig, daß eine mit unerhörter Skrupellosigkeit ausgeheckte Anklage gegen einen unschuldigen Mann abgewehrt wird. So ist ihre Anwesenheit ein Zeichen, daß sie ihrer Verpflichtung gegenüber der Wahrheit für alle Welt sichtbar nachkommen wollen, aber sie bleiben stumm -wegen der stürmischen Bedingungen dieser Tage.« Er hob eine Hand, als wolle er einen Regentropfen auffangen, der vom strahlendblauen Himmel fiel -gleichzeitig jedoch sah er aus, als würde er eine Geste in Richtung der Sulla-Statue machen. In den Reihen der Richter gab es ein unbehagliches Stühlerücken. Erucius, der gerade seine Fingernägel inspizierte, bekam nichts davon mit.
Cicero räusperte sich erneut. Als er fortfuhr, klang seine Stimme lauter und kräftiger als zuvor, und die Unsicherheit war völlig verschwunden. »Bin ich soviel mutiger als diese schweigenden Männer? Fühle ich mich der Gerechtigkeit mehr verpflichtet als sie? Ich glaube nicht. Oder bin ich so versessen darauf, meine Stimme über das Forum hallen zu hören und für meine offenen Worte gelobt zu werden? Nein, nicht wenn ein besserer Redner dieses Lob verdienen könnte, indem er passendere Worte fände. Was hat also mich anstelle eines bedeutenderen Mannes dazu getrieben, die Verteidigung des Sextus Roscius von Ameria zu übernehmen?
Der Grund ist dieser: Hätte einer dieser großartigen Redner sich erhoben, vor diesem Gericht gesprochen und - wie in einem solchen Fall unvermeidlich
- Worte über die politischen Verhältnisse verloren, dann hätten die Leute mehr in seine Ausführungen hineingedeutet, als er tatsächlich gesagt hätte. Gerüchte wären entstanden, Verdächtigungen erhoben worden. Denn die bedeutende Position dieser Männer bringt es mit sich, daß nichts, was sie sagen, unbemerkt, keine Andeutung in ihren Reden undiskutiert bleibt. Ich hingegen kann alles sagen, was in diesem Fall gesagt werden muß, ohne widrige Aufmerksamkeit oder unangemessene Kontroversen fürchten zu müssen. Denn ich habe mich nicht in der Politik betätigt; kein Mensch kennt mich. Wenn ich mich einmal zu frei äußere oder eine peinliche Indiskretion fallen lasse, wird es wahrscheinlich niemand bemerken, oder wenn doch, wird man mir den Lapsus meiner Jugend und Unerfahrenheit wegen nachsehen.«
Es gab ein weiteres Stühlerücken. Erucius blickte von seinen Nägeln auf, rümpfte die Nase und starrte in die Ferne, als habe er am Himmel soeben eine alarmierende Rauchwolke ausgemacht.
»Wie ihr seht, bin ich nicht vor allen anderen ausgewählt worden, weil ich mit dem größten Geschick sprechen könnte.« Cicero lächelte, als wolle er die Menge um Nachsicht bitten. »Nein, ich war einfach der einzige, der übrig geblieben war, als alle anderen verzichtet hatten. Ich war derjenige, der mit dem geringsten Risiko reden konnte. Niemand kann behaupten, daß ich ausgewählt wurde, damit Sextus Roscius die bestmögliche Verteidigung erhielt. Die Wahl fiel schlicht deshalb auf mich, damit er überhaupt eine Verteidigung bekam.
Vielleicht fragt ihr: Welcher Druck von außen und welche mächtige Angst schrecken die besten Anwälte ab, so daß die Verteidigung von Sextus Roscius’ Leben einem ausgesprochenen Anfänger überlassen bleibt? Wenn man Erucius reden hört, sollte man meinen, daß überhaupt keine Gefahr besteht, da er es absichtsvoll vermieden hat, seinen wahren Auftraggeber zu benennen oder die bösartigen Motive zu erwähnen, die jene geheimnisvolle Person veranlaßt haben, meinem Mandanten überhaupt den Prozeß zu machen.
Wer ist diese Person? Was sind ihre Motive? Laßt mich erklären.
Der Besitz des verstorbenen, ermordeten Sextus Roscius -der normalerweise jetzt der Besitz seines Sohnes und Erben sein sollte - umfaßt Güter und Eigentum im Gesamtwert von mehr als sechs Millionen Sesterzen. Sechs Millionen Sesterzen! Das ist ein beträchtliches Vermögen, das im Laufe eines langen und arbeitsreichen Lebens angehäuft wurde. Trotzdem wurde der gesamte Nachlaß von einem gewissen jungen Mann, vermutlich auf der Auktion, für die erstaunliche Summe von zweitausend Sesterzen aufgekauft. Ein recht gutes Geschäft. Der preisbewußte junge Käufer war Lucius Cornelius Chrysogonus - wie ich sehe, ruft die bloße Erwähnung seines Namens allgemeine Unruhe hervor, und warum auch nicht? Er ist ein außergewöhnlich mächtiger Mann. Nomineller Verkäufer des Besitzes, der die Interessen des Staates vertrat, war der tapfere und berühmte Lucius Sulla, dessen Name ich mit allem gebührenden Respekt erwähne.«
In diesem Moment wurde ein leises Zischen auf dem Platz hörbar, wie Sprühregen auf heißem Pflaster, als die Anwesenden sich einander zuwandten und hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Capito packte Glaucias Schulter und krächzte ihm etwas ins Ohr. Um mich herum verschränkten die Adeligen auf der Tribüne ihre Arme und tauschten grimmige Blicke. Zwei ältere Metelli zu meiner Rechten nickten sich erwartungsvoll zu. Gaius Erucius, dessen plumpe Wangen bei der Erwähnung von Chrysogonus’ Namen dunkelrot angelaufen waren, packte einen jungen Sklaven beim Hals, bellte ihm einen Befehl ins Ohr, worauf jener eilends den Platz verließ.
»Ich will ganz offen sein. Es war Chrysogonus, der die Anklage gegen meinen Mandanten inszeniert hat. Ohne jegliche gesetzliche Grundlage hat er sich den Besitz eines unschuldigen Mannes angeeignet. Doch solange der rechtmäßige Besitzer noch lebte und atmete, sah er sich im ungetrübten Genuß dieses Vermögens beeinträchtigt. Deshalb bittet er euch, werte Richter, ihn von dem Stachel dieser Furcht zu befreien, indem ihr meinen Mandanten aus dem Weg räumt. Erst dann kann er hoffen, das Vermögen des verstorbenen Sextus Roscius in Schwelgerei zu verschleudern und zu verprassen.