Scheint euch das recht und billig, ihr Richter? Ist es anständig? Ist es gerecht? Laßt mich meine Gegenforderung stellen, die, wie ich glaube, bescheidener und vernünftiger ist.
Erstens: Sorgt dafür, daß der Schurke Chrysogonus sich mit unserem Hab und Gut zufriedengibt. Sorgt dafür, daß er uns nicht auch noch an den Kragen geht!«
Cicero hatte begonnen, auf der Rednertribüne auf und ab zu laufen, wie er es in seinem Arbeitszimmer zu tun pflegte. Jede Unsicherheit war aus seiner Stimme gewichen, die kräftiger und aufrüttelnder klang, als ich sie je gehört hatte.
»Zweitens, werte Richter, bitte ich euch: Widersetzt euch diesem verbrecherischen Plan verwegener Gesellen. Öffnet eure Augen und Herzen dem Flehen eines unschuldigen Opfers. Rettet uns alle vor einer schrecklichen Gefahr, denn die Bedrohung, die in diesem Prozeß über Sextus Roscius schwebt, schwebt über jedem freien Bürger Roms. Wenn ihr am Ende dieser Verhandlung von Sextus Roscius’ Schuld überzeugt seid - nein, wenn ihr auch nur den leisesten Verdacht hegt -, wenn irgendein Indiz zu der Annahme verleiten könnte, daß die furchtbaren Vorwürfe gegen ihn möglicherweise gerechtfertigt sein könnten; wenn ihr ehrlich glaubt, daß seine
Ankläger ihm aus irgendeinem anderen Grund den Prozeß machen als dem, ihre eigene unstillbare Gier nach Beute zu befriedigen - dann befindet ihn für schuldig, und ich werde nicht widersprechen. Wenn es hier jedoch ausschließlich um die raffsüchtige Habgier seiner Ankläger geht und ihr Bestreben, ihr Opfer durch eine Perversion der Rechtsprechung zu eliminieren, dann bitte ich euch alle, auf eure Integrität als Senatoren und Richter zu bestehen und euch zu weigern, kraft eures Amtes und eurer Person zu bloßen Handlangern von Kriminellen zu werden.
Dich, Marcus Fannius, als Vorsitzenden Richter dieses Gerichtshofes, bitte ich dringend, die große Menschenmenge zu betrachten, die sich zu dieser Verhandlung eingefunden hat. Was hat sie hierhergelockt? Ah, natürlich, die Anklage ist an sich schon äußerst sensationell. Ein römisches Gericht hat lange keinen Mordfall mehr verhandelt - obwohl es in der Zwischenzeit bestimmt keinen Mangel an abscheulichen Morden gegeben hat! Alle, die sich hier heute versammelt haben, sind des Mordens überdrüssig; sie sehnen sich nach Gerechtigkeit. Sie wollen die Täter hart bestraft sehen. Sie wollen, daß das Verbrechen mit gebotener Unnachgiebigkeit bekämpft wird.
Das ist alles, worum wir bitten: harte Bestrafung und Anwendung der vollen Strenge des Gesetzes. Normalerweise ist es die Anklage, die diese Forderung erhebt, aber heute nicht. Heute sind wir es, die Angeklagten, die dich, Fannius, und deine Richterkollegen bitten, das Verbrechen mit aller Schärfe zu bestrafen. Denn wenn ihr das nicht tut - wenn ihr es versäumt, diese Gelegenheit zu ergreifen, um uns zu demonstrieren, wofür die Richter und die Gerichtshöfe Roms stehen -, dann haben wir offenkundig einen Punkt erreicht, wo menschlicher Gier und Verwegenheit keine Grenzen mehr gesetzt sind. Die Alternative ist absolute und ungebändigte Anarchie. Wenn ihr vor der Anklage kapituliert und es versäumt, eure Pflicht zu tun, wird das Abschlachten Unschuldiger nicht länger im Schatten und bemäntelt durch juristische Winkelzüge geschehen. Nein, dann werden derartige Morde in aller Öffentlichkeit hier auf dem Forum begangen werden, Fannius, vor eben jenem Podium, auf dem du jetzt sitzt. Denn was anderes versucht man durch diesen Prozeß zu bewirken, als durchzusetzen, daß man ungestraft stehlen und morden kann?
Vor der Rostra kann ich zwei Lager ausmachen. Die Ankläger, die Anspruch auf das Vermögen meines Mandanten erheben, die direkt von der Ermordung seines Vaters profitiert haben und jetzt versuchen, den Staat zur Tötung eines unschuldigen Mannes anzustacheln. Und den Angeklagten: Sextus Roscius, dem seine Ankläger außer seinem Ruin nichts gelassen haben, dem der Tod seines Vaters nicht nur Trauer, sondern auch bittere
Armut gebracht hat, der selbst zu dieser Verhandlung mit einer Leibgarde erschienen ist -nicht zum Schutz des Gerichts, wie Erucius höhnisch andeutet, sondern zu seinem eigenen Schutz, um nicht hier an dieser Stelle vor euren Augen hingemetzelt zu werden! Welcher der beiden Parteien wird hier heute in Wahrheit der Prozeß gemacht? Wer hat den Zorn des Gesetzes auf sich gezogen?
Eine bloße Beschreibung dieser Banditen würde nicht ausreichen, euch mit der Schwärze ihres Charakters vertraut zu machen. Eine simple Auflistung ihrer Verbrechen würde die Unverfrorenheit nicht hinreichend verdeutlichen, mit der sie es wagen, Sextus Roscius des Vatermordes anzuklagen. Ich muß am Anfang beginnen und euch den Lauf der Ereignisse schildern, die zu diesem Prozeß geführt haben, damit ihr die Tragweite der Demütigung begreift, die dieser unschuldige Mann erleiden mußte. Erst dann werdet ihr die Verwegenheit seiner Ankläger und das grauenhafte Ausmaß ihrer Verbrechen ganz verstehen. Und ihr werdet, nicht mit völliger, aber doch mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, in welch unheilvollen Zustand diese Republik geraten ist.«
Cicero war wie verwandelt. Seine Gesten waren stark und unmißverständlich. Seine Stimme war leidenschaftlich und klar. Hätte ich ihn aus der Ferne gesehen, ich hätte ihn für einen Fremden gehalten. Hätte ich ihn aus dem Nebenzimmer gehört, ich hätte seine Stimme nicht erkannt.
Ich war schon früher Zeuge solcher Verwandlungen gewesen, aber nur im Theater oder zu bestimmten religiösen Anlässen, wo man es gleichsam erwartet, von der Wandelbarkeit der menschlichen Natur überrascht zu werden. Das gleiche mit eigenen Augen bei einem Menschen zu sehen, den man zu kennen glaubte, war verblüffend. Hatte Cicero die ganze Zeit gewußt, daß eine solche Veränderung in ihm stattfinden würde, wenn es darauf ankam? Oder Rufus und Tiro? Sie mußten es zumindest geahnt haben, denn es gab keine andere Erklärung für ihr stets ungebrochenes Vertrauen. Was hatten sie alle in Cicero gesehen, das ich nicht hatte entdecken können?
Erucius hatte die Masse mit Melodrama und Schwulst unterhalten, und der Pöbel war zufrieden gewesen. Er hatte die Richter offen bedroht, und sie hatten seine Beleidigung schweigend über sich ergehen lassen. Cicero schien wild entschlossen, bei seinen Zuhörern wahre Leidenschaft zu entfachen, und sein Hunger nach Gerechtigkeit war ansteckend. Die Entscheidung, Chrysogonus gleich zu Beginn anzugreifen, war ein kühnes Spiel gewesen. Bei der bloßen Erwähnung des Namens waren Erucius und Magnus deutlich von Panik ergriffen worden. Sie hatten offenbar lediglich schwache
Gegenwehr erwartet, ein ebenso weitschweifiges und oberflächliches Plädoyer wie das ihrige. Statt dessen stürzte sich Cicero kopfüber in die Geschichte und ließ nichts aus.
Er beschrieb die Lebensumstände des älteren Sextus Roscius, seine Verbindungen in Rom und seine langwährende Fehde mit seinen Vettern Magnus und Capito. Er beschrieb ihren verrufenen Charakter. (Er verglich Capito mit einem vernarbten und ergrauten Gladiator und Magnus mit dem Lieblingsschüler eines alten Kämpfers, der seinen Lehrmeister an verbrecherischer Verwegenheit längst übertroffen hatte.) Er nannte den genauen Tatort und die Tatzeit des Mordes an Sextus Roscius und wies auf den eigenartigen Umstand hin, daß Mallius Glaucia die ganze Nacht durchgeritten war, um Capito in Ameria einen blutigen Dolch und die Todesnachricht zu überbringen. Er ging näher auf die Beziehung der beiden Vettern zu Chrysogonus ein; auf die illegale Proskription von Sextus Roscius nach seinem Tod, nachdem die Proskriptionen qua Gesetz längst beendet waren; auf den zwecklosen Protest des Gemeinderates von Ameria; auf den Aufkauf von Roscius’ Nachlaß durch Chrysogonus, Magnus und Capito; auf ihren Versuch, Sextus Roscius den Jüngeren auszuschalten, und auf seine Flucht zu Caecilia Metella in Rom. Gleichzeitig erinnerte er die Richter an die Frage, die der große Lucius Cassius Longinus Ravilla in Strafverfahren immer wieder zu stellen pflegte: Cui bono?