Aber als schließlich das Schweigen zwischen ihnen so lastend geworden war, daß es wie eine schwere eiserne Kugel auf Gilgameschs Nacken drückte, holte er tief Luft in die Lungen, so tief er konnte, und weil er es nicht länger aushalten konnte, sprach er plötzlich: »Also, willst du mir eins sagen, Bruder?«
»Ja?« sprudelte Enkidu eifrig hervor. »Was immer es ist, mein Bruder, frage nur.«
Die erste Frage, die ihm in den Sinn kam, sprach er ungestüm aus und nur, um das Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen. »In der Zeit, die du allein verbracht hast, wie lang das auch sein mag — was war das Merkwürdigste, was du sahst, und wo hast du es gesehen?«
»Ach, das Merkwürdigste, was ich sah?« sagte Enkidu und versank erneut in ein Schweigen, das so lang und lastend wurde, daß Gilgamesch zu fürchten begann, es würde sie beide wieder verschlingen, wie es vordem gewesen war, und sie für die künftigen Tage wieder in diese düstere Eiseskälte des Herzens hüllen. Aber dann sagte Enkidu: »Es war an einem Ort im Norden, jenseits von Cibola, jenseits sogar noch vom kalten Sargassomeer. Es war das Tor zum Land der Lebenden, wonach ich damals suchte, und man hatte mir gesagt, daß ich es dort finden könnte.«
»Das Land der Lebenden?« sagte Gilgamesch. »Also hast auch du danach gesucht? Ich habe gehört, daß auch diese englische Königin, die Queen Elizabeth, Männer ausgesandt hat, die danach forschen sollen, hier im Outback.«
»Alle suchen danach, Bruder.«
»Nicht ich! Ich nicht! Für mich ist das Ganze bloßer hirnrissiger Humbug.«
»Das mag so sein«, erwiderte Enkidu. »Ich jedenfalls war auf der Suche danach. Vielleicht glaubte ich, daß ich dich dort finden könnte, jenseits dieses Durchgangs im Norden. Aber wie es sich zeigte, es gab dort kein solches Tor, jedenfalls soweit ich es feststellen konnte. Aber was ich entdeckte, was merkwürdig genug. Ich durchquerte ein unfruchtbares flaches Land, recht ähnlich wie dieses hier, nur daß dort überall helle blaue Schneewirbel durch die Luft tanzten, und wenn du auf den Boden tratest, jagtest du Wolken von Kristallen auf, die wie Diamanten blitzten und Musik von sich gaben. Und ich sah vor mir ein Weib, eine feine zierliche Frau mit weichem Goldhaar und prächtigen Brüsten, und sie stand vor mir da auf meiner Straße und rief meinen Namen und lächelte mich an.«
Und damit verstummte er wieder, als sei damit seine Geschichte zu Ende.
Gilgamesch wartete, denn er wußte, da mußte noch etliches mehr kommen, auch weil er wußte, daß Enkidu so seine eigene Art hatte, Geschichten zu erzählen. Doch die Zeit verging, und es kam nichts weiter von ihm. Sie schritten aus und folgten ihrem Weg. Nach längerer Zeit wandte er sich Enkidu zu und fragte: »Und? Hast du sie umarmt?«
»Umarmt? Oh. Ja. Ja, das tat ich. Ich trat vor sie hin und griff nach ihr und zog sie in die Arme, und sie fügte sich ganz bereitwillig.« Er lachte. »Warum hätte ich es nicht tun sollen? Sie war sehr schön, Bruder.«
»Und was war daran so merkwürdig?«
»Das Merkwürdige, ja…« Enkidu sprach wie aus weiter Ferne. »Ich will dir davon berichten. Als sie in meinen Armen lag, machte ich mich daran, ihren weichen glatten Rücken zu streicheln, wie Weiber das oft gern von dir erwarten. Doch da war nichts Weiches und Sanftes, Bruder! Von vorne war sie eine wunderschöne Frau, doch von hinten war sie wie ein hohler Baum mit einer groben Borke.«
»Eine Dämonin!« sagte Gilgamesch und machte das Zeichen, um den Schutz Enlils des Vaters anzurufen.
»Eine Dämonin, ja, vielleicht«, sagte Enkidu. »Aber auch eine ziemliche Enttäuschung. Und vergeudete Schönheit, als ich entdeckte, daß sie nur zur Hälfte schön war und die andere Hälfte war die eines Ungeheuers.«
»Aber sie hat dir doch keinen Schaden zugefügt?« fragte Gilgamesch besorgt.
»Nur meinem Gefühl für das, was angemessen und sauber ist. Eine schöne Frau sollte eben durch und durch schön sein, sonst sollte es an ihr überhaupt nichts Schönes geben. Das ist es, was ich denke.« Und nach einer Weile sprach er weiter: »Es kommt noch mehr.«
»Dann sprich dich aus.«
»Ich machte mich von ihr frei und ging fort von ihr, und eine kleine Zeit später stieß ich auf eine zweite Frau am Rand der Straße, und ihre Haare waren rot wie Scharlach und die Haut weiß, und ihr Gesicht war wie das einer Göttin. Sie streckte mir die Arme entgegen, und ich zog sie an mich, und ihre Rückseite waren nur Knochen, hart und kalt und nackt, kein Fetzchen Fleisch bedeckte sie.«
»Wie betrüblich.«
»Ja, sehr betrüblich. Und das nächste Weib…«
»Die nächste? — Ja, wie viele waren es denn?«
»Die nächste hatte schwarze Haare und eine goldene Haut, und Brüstchen, die so bezaubernd waren, daß ich hätte weinen mögen. Und ich drehte sie um, und ihr Rücken war nichts als Seetang und Muscheln. Und die nächste, die dann kam…«
»Die nächste, ja?«
»Schlangen und Kröten auf dem Rücken und die Zeichen des Aussatzes. Doch von vorn strahlend wie ein jungfräuliches Mädchen, und ihre Augen waren blau, und ihr Haar war wie der Aufgang der Sonne. Ihre Schönheit, Bruder, sie hätte dich weinen gemacht, und ebenso das Übel, das hinter ihr lauerte.«
»Und nach ihr kamen weitere«, sagte Gilgamesch, »und jede war noch übler als die zuvor, ja?«
»Ja. Alle paar hundert Schritt stand da eine weitere. Sie schienen wie Blumen aus dem Boden zu wachsen. Und ich zog weiter und weiter, und am Ende rannte ich, und sie winkten mir mit ihren Armen zu, mit Bewegungen wie die der Bäume, die tief im Meer wachsen, und ich lief und rannte, floh, bis ich bei der letzten von ihnen anlangte, und sie war sogar noch schöner als die anderen und sagte zu mir: Hier bin ich, Enkidu. Ich bin es, die Eine, die Wahre. Doch ich schüttelte den Kopf. Und ich sagte ihr, sie solle mir fernbleiben. Ich bin das, was du suchst, sagte sie, ich bin es. Und als sie mir nahe kam, hob ich den Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne und sagte zu ihr, daß ich sie in ihr nächstes Leben befördern würde, wenn sie mir noch einen Schritt näher käme.«
»Und? Kam sie dennoch näher?«
»Nein«, antwortete Enkidu tief bekümmert. »Sie wandte sich um und ging dann mit hängenden Schultern ganz langsam davon und drehte sich kein einziges Mal zu mir um. Aber von hinten war sie noch liebreizender als von vorn. Sie war vollkommen. Makellos. Ich sah ihr nach, bis sie meinem Blick entschwand. Und dann lief ich in die andere Richtung und hielt nicht inne, bis die Dunkelheit hereinbrach. Denn da schien mir gewiß zu sein, daß die Tür zum Land der Lebenden dort nicht zu finden sein würde. Und, Bruder, ich wußte, wäre ich diesem Weib gefolgt und hätte sie umarmt, sie hätte sich in meinen Armen verändert und wäre zu etwas noch Scheußlicherem geworden als alle die anderen, die ich vor ihr sah, und der Schmerz würde mich dann nie wieder loslassen. So geht das doch? Meinst du nicht auch?«
»Wer kann das schon sagen, wo Dämonen im Spiel sind? Aber vielleicht hattest du recht, vor ihnen zu fliehen. Auf jeden Fall ist das eine sehr seltsame Geschichte, eine sehr seltsame, Enkidu.«
»Es ist die seltsamste Sache, die ich dir erzählen kann, von allem, was mir widerfuhr, während ich einsam wanderte.«
Gilgamesch nickte. »Eine sehr seltsame Geschichte«, wiederholte er.
»Und du, Bruder? Was hast du getan in der Zeit, die wir voneinander getrennt waren?«
»Ich habe gejagt«, sagte Gilgamesch. »Allein. Mir war nicht nach Gesellschaft, auch wenn ich gelegentlich jemand fand, oder sie mich fanden, eigentlich. Es war eine kalte Zeit für mich. Bruder.«