»Wir hätten uns nie trennen dürfen.«
»Ja«, sagte Gilgamesch. »Niemals. Aber wir wurden auseinandergerissen. Doch jetzt ist diese Zeit vorbei.«
»Es waren die bösen Dämonen, die sich zwischen uns drängten«, sagte Enkidu. »Die Dämonen verleiteten uns zum Zerwürfnis.«
»Ja, das denke ich auch«, sagte Gilgamesch.
Und danach schwiegen sie wieder. Schließlich sagte Enkidu: »Also, Bruder, wohin sollen wir uns jetzt wenden? Verfolgst du einen bestimmten Weg hier durch dieses Outback?«
»Nur den Weg, wie ihn meine Sohlen finden, Schritt für Schritt.«
»Ah. Ich verstehe. Nun, dann soll dies auch mein Weg sein«, sagte Enkidu.
Sie lagerten für die Nacht an einer Stelle im Flachland, an der sich zwei ausgetrocknete Flußläufe vereinigten und gezackte Felsspitzen vor ihnen direkt aus dem Wüstenboden sich zu bestürzender Höhe erhoben. Enkidu jagte ein Tier, das war wie eine Schwarzgazelle, doch zopfartige grüne Zotteln entlang des Rückenkamms besaß und beunruhigende rote Hörner, gebogen wie Krummsäbel, und fing es ein und rang es zu Boden und erlegte es. Sie enthäuteten es gemeinsam, und sie brieten es über dem Feuer, das Gilgamesch mittels der merkwürdigen grauen Kohlen entzündet hatte, die sich im Wadi türmten. Und danach saßen sie still beieinander, schliefen nicht, waren aber auch nicht gänzlich wach, und sprachen sehr wenig. Es genügte ihnen, wieder beisammenzusein. Von Beginn an, seit den Zeiten im verlorenen uralten Uruk in der anderen Welt, als sie einander begegneten, miteinander rangen und sogleich in heftige Freundschaft fielen, hatten sie beide im anderen einen Gleichen gesehen, eine ergänzende zweite Hälfte. Außer an körperlicher Größe und Stärke waren sie sich nicht ähnlich, denn in jenem anderen Leben war Gilgamesch ein Königssohn, aufgewachsen und erzogen im Überfluß, um das Erbe der Macht anzutreten; und der starke Zottelriese Enkidu war in der Wildnis geboren, war selbst nur ein Wildling, der mit den Tieren der Wildnis lebte und keine Sprache kannte als die der Tiere, bis er mannbar geworden war; doch sie hatten vom ersten Augenschein an erkannt, daß sie zueinander paßten, einander ergänzten wie die zwei Teile eines Ganzen; und so war es dann stets zwischen ihnen geblieben — außer in der Zeit ihres Zerwürfnisses und der Entfremdung, und diese war nun vorbei.
Und in dem Augenblick kurz vor dem ersten Morgenlicht, wenn die Seelen ausgespannt zwischen Ewigkeit und Vergessen schweben, richtete Gilgamesch sich plötzlich auf, denn er hatte das bedrückende Gefühl, daß das Meer mit tödlicher Gewalt über ihn hereinbrechen werde. Aber sie waren hier weitab vom Meer, so weit man es sich nur vorstellen konnte.
»Bruder?« fragte er.
»Horch!« sagte Enkidu, der bereits hellwach war.
Gilgamesch nickte. Er vernahm gemeine, spöttische, schmatzende, keckernde Laute wie von Mistvögeln oder von Grabschakalen. Seine Hand fuhr zur Waffe, er sprang auf und tanzte einen Schritt nach vorn und wirbelte dabei herum. Und in diesem Augenblick zitterten die ersten dünnen Strahlen der Morgensonne über den niederen Bergkamm hinter ihnen, und mit der Sonne kam ein Dutzend Geschöpfe der Dunkelheit, Wesen in Mannsgestalt, aber scheußlich verzerrt, verkrümmte, dickliche, kurzbeinige Geschöpfe mit großen baumelnden Armen, die im fahlroten Licht der aufsteigenden Sonne unendlich lang aussahen.
»Enki! Enlil!« brüllte Gilgamesch, und dann stürzten Enkidu und er sich ohne Zögern den Wesen entgegen.
Mit seinem ersten Hieb zerschnitt er zwei davon halb durch, und Enkidu einen dritten Unhold. Die zerstückelten Leiber fielen nieder und verströmten eine dunkle goldene Flüssigkeit. Gilgamesch wirbelte herum, bereit für den nächsten Angreifer, doch sie zogen sich mit feigen leisen Schnüffellauten zurück. Hatte das Gemetzel sie in die Flucht geschlagen? Nein, es war ein Täuschungsmanöver! Sechs weitere kamen seitlich heran, und mindestens ebenso viele von der anderen Seite und stürzten sich furchtlos den beiden Sumerern entgegen. Gilgamesch pflückte einen von Enkidus Schulter und schleuderte ihn weit fort, und Enkidu, der herumfuhr, säbelte einen Angreifer von Gilgameschs Bein, an dem das Ding zerrte, um ihn zu Boden zu werfen.
»Rücken an Rücken, Bruder!« rief Enkidu.
Gilgamesch nickte. Sie gingen in Position und drückten sich eng aneinander, bildeten einen einzigen Leib mit acht Gliedmaßen und zwei wütenden Schwertern. Sie brauchten einander keine weiteren Hinweise zu geben, sie bewegten sich im Einklang, hierhin und dann dorthin, sie hieben zu, stießen, zerschlitzten, schlachteten. Kurz darauf lag ein Halbdutzend der gräßlichen Angreifer tot da, und die übrigen umkreisten sie unruhig, kläffend und zischend, und suchten auf irgendeine Weise die Abwehr der beiden Männer zu durchbrechen.
Dann war die Sonne ganz über den Kamm gestiegen, und ihr volles Licht brach über den Kampfplatz herein; und die Überlebenden unternahmen nicht den Versuch, ihre Gefallenen zu bergen, sondern wandten sich zur Flucht und eilten nach Westen, als fürchteten sie, von der frischgeborenen Tageshelle versengt zu werden. Einer von ihnen wandte sich zu ihnen um, und Gilgamesch erblickte eine grausam höhnende Parodie von Menschengestalt: eine breite niedere dunkle Stirn, zwei funkelnde rote Augen, weitgespreizte Klauenhände. Gilgamesch hob drohend die Faust, und in der alten Sprache des Landes gebot er dem Unhold und allen seiner Art, sich davonzumachen. Schnaubend und fauchend floh das Untier. Die übrigen rannten noch schneller davon, überholten es und verschwanden eines nach dem anderen in Spalten und Höhleneingängen im zerklüfteten Boden.
Enkidu sah starr auf die umherliegenden Leichen. Mit einem leichten Schaudern sagte er: »Bei Enlil, Bruder, das ist wahrhaft ein verrottetes Land, das so scheußliche Geschöpfe hervorbringt.«
»Sind’s Dämonen, meinst du?«
»Nein, bloße Affen, scheint mir.«
Gilgamesch zuckte die Achseln. »Affen oder Dämonen, was macht das für einen Unterschied. Aber ich bin viel lieber in ihrer Gesellschaft als in der von Narren.«
»Und was für Narren meinst du, Bruder?«
Gilgamesch wies mit dem Daumen heftig nach rückwärts, über die Schulter. »Narren, wie sie in den Städten hausen, die hinter uns liegen.«
»Aha. Ja. Du meinst, wie dieser Priester Johannes?«
»Der ist weit weniger ein Narr als die meisten anderen. Nein, ich meine Städte wie Nova Roma und die anderen weit drüben fern im Osten…«
»Elektrograd, ja? Guillotine? Die Städte der Spät-Toten?«
Gilgamesch nickte. »Ja, die meine ich. Und mein einziges Ziel ist es jetzt, mich möglichst weit von Orten entfernt aufzuhalten, in denen diese kleinen, keifenden, gierigen Kläglinge hausen, die König von diesem oder jenem zu sein trachten, und — wie lautet das Wort? — Präsident? Ja, Präsident. Sultan, Kaiser, Zar, Schah… Ich beabsichtige, die halbe Nachwelt oder ein Stückchen mehr zwischen mich und all diese Leute und alle derartigen Städte zu legen.«
Enkidu lachte. »Das muß man sich mal vorstellen, daß ich mir die ganze Zeit, während ich einsam durch die Hinterwäldlerwelt streifte, ausmalte, wie du immer noch in Nova Roma in fauler Bequemlichkeit dich herumsuhltest, an einem Abend mit Bismarck speistest, am nächsten mit Cromwell und dann mit Esarhaddon oder Nefertiti…«
»Nova Roma!« brummte Gilgamesch. »Ich konnte es nicht ausstehen. Ich konnte nicht schnell genug weg von da. Und wenn ich Nova Roma nie wieder sehen muß — oder Bismarck oder Cromwell oder Lenin — oder jemals diese Namen hören muß…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Bruder, das ist eine Lebensphase, die für mich vorbei und abgetan ist. Mich verlangt es nur noch sehnlich danach, als einfacher schlichter Jäger zu leben. Ich werde mich fernhalten von allen diesen wichtigen Hauptstädten, wo sich die Später Toten herumtreiben könnten. Elektrograd, Guillotine, Smoketown, Hypoluxo, Hoch-Versailles — mir sind schon die Namen ein Abscheu und Greuel! Nein, Enkidu, für mich heißt es das Outback, die Wildnis. Jetzt und für immer!«