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»Und so ist es auch für mich«, sagte Enkidu. Und sie beschworen es und umarmten einander.

Es hätte Gilgamesch sehr gefallen, anderthalb Ewigkeiten und noch eine dazu damit zu verbringen, mit Enkidu als einzigem Gefährten diese wilden abweisenden Landstriche zu durchstreifen. Sie paßten zusammen wie die Hand in den Handschuh, und sie brauchten auch kaum miteinander zu sprechen, weil jeder wußte, was der andere dachte. Vereint weiter zu wandern, Tag um Tag unter der scharfen roten Sonne, gemeinsam gegen die gespenstischen Alptraumgeschöpfe dieser feindseligen Gegend ankämpfend, Auge und Hand und Stärke zu erproben gegen die teuflische Stärke und Hartnäckigkeit der höllischen Wesen, die in den Ödnissen des Outback lauerten — ach, das war die einzige echte Wonne, dachte Gilgamesch. Das einzige im Leben, was wirklich Lust und Erfüllung brachte! Gilgamesch und Enkidu — Enkidu und Gilgamesch — nur sie zwei beide allein, weit fort von den Eitelkeiten und Torheiten und dem fehlgeleiteten Streben der schnatternden Stadtleute!

Aber es sollte nicht sein.

So kahl und leer das Land großenteils war, es war nicht gänzlich leer. Kein Teil der Nachwelt konnte noch leer sein, nicht die unter Eis begrabenen Polarregionen, nicht die kochende Zone der Weltmitte, und auch nicht dieses öde versengte Land im Outback; denn es gab hier Milliarden und Abermilliarden Seelen unterzubringen — Seelen, so entschieden die Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, derartige Dinge zu erforschen, von jedem Menschen, der einstmals auf der früheren Erde gelebt hatte. Und obschon die Nachwelt die Dimensionsbegriffe sogar der gescheitesten Geographen überstieg, gab es auch hier kaum einen Winkel, in dem nicht etliche verstreute Siedler hausten oder es doch zumindest wild umherschweifende Nomadenhorden gab. Gilgamesch und Enkidu hatten es recht schwer, als sie kreuz und quer und auf gut Glück durch das Land zogen, ihre einsame Zweisamkeit länger als einige Tage ohne äußere Störungen aufrechtzuerhalten.

Einmal war es eine klägliche Farm, auf die sie stießen, mit Scheuern und Ställen aus rohen ungestrichenen Brettern und Krähen und Geiern, die auf den krummen Ästen der Bäume dahinter hockten, und ein Grüppchen ausgemergelter graugesichtiger Leute, die gegen den elenden Boden ankämpften. Und ein andermal war es eine Karawane, die sich von da nach dort zwischen den weit entfernt liegenden Siedlungen der weiten Ebene sich dahinschleppte. Und ab und zu war es ein Pilger, allein unterwegs wie sie. Soweit es möglich war, vermieden die beiden Sumerer Begegnungen mit anderen. Manchmal aber war dies nicht möglich, wenn sie nicht unnötig Anlaß zu Feindseligkeit bieten oder sich unnötig in Gefahr bringen wollten; oder aber der einzige Weg führte durch besiedeltes Gebiet. Und manchmal — von Hunger und Durst bedrängt oder dem schlichten Bedürfnis, hin und wieder andere menschliche Stimmen zu hören — entschieden sie sich ganz spontan, ihren Zölibat zu durchbrechen und sich etliche Stunden in der Gesellschaft anderer Menschen zu gönnen, bevor sie weiterzogen.

Und so kam es, fast gegen ihren Willen, daß sie sich mit diesen Leuten einließen, oder mit jenen, oder jenen, und daß sie bei ihnen am Feuer saßen und Tratsch und Gerüchte mit ihnen austauschten und die Namen der Fürsten und der Völker erfuhren, die es im Outback gab, und von den eitlen Bestrebungen und Süchten und schalen Träumen erfuhren, von denen sie getrieben wurden, von den Kriegen, die hier gekämpft wurden, von den Intrigen, den idiotischen Plänen, dem Irrsinn. Und so lernten die beiden wandernden Sumerer, die länger in den übervölkerten Städten an der östlichen Küste der großen Landmasse gelebt hatten, welche die Nachwelt war, daß sogar hier in dieser wilderen Gegend, dem Outback, die gleichen aberwitzigen Irrsinnsvorstellungen im Schwange waren, die gleichen verrückten Versuche, in diesem Leben die Fehler des anderen zu wiederholen. Und so senkte sich die Überzeugung in ihre Herzen, die Wahrheit: Menschen sind eben Menschen, überall, und es gibt kein Ausweichen vor ihrer Schwachheit und ihrem Schwachsinn, alle sind gleich, überall, gleichgültig, welche Art Kleider sie tragen oder was für eine Sprache sie reden. Es war eine betrübliche Wahrheit, die sie da erfuhren, und Gilgamesch suchte in den nebelhaften Tiefen seiner von Zeitgeschichte überlagerten Erinnerung umher und hatte auf einmal das traurige Gefühl, dies alles nicht zum erstenmal zu erfahren.

Obwohl sie selten länger als drei Tage in die selbe Richtung zogen, entdeckten sie, daß sie überwiegend westwärts vorangekommen waren und sich nun fast am äußersten Rand des Outback befanden. Dies erfuhren sie in einem Ort namens Vectis Minima, der aus einer Wegkreuzung und einer Raststätte mit fünf Kabinen bestand, über die ein fahläugiger alter Mann wachte, dessen Gesicht zernarbter und kummervoller wirkte als das Antlitz des Mondes. Sie suchten hier Unterschlupf vor einem kalten schwarzen Regen, der in flachen Bahnen über das Land fegte, ohne den Boden zu treffen, der sie aber dennoch bis in die Knochen frieren ließ. Dort fragte Gilgamesch aus einer launigen Neugier, wo sie sich befänden und was vor ihnen liege.

»Ihr seid hier an die zwölf Tagesreisen von der See entfernt«, unterrichtete sie der alte runzelige Gastwirt.

»Der See? Welcher See?« Gilgamesch war überrascht.

»Na, dem Weißen Meer, dem Dämonenmeer. Was sonst? Mit was für einem anderen Meer habt ihr denn gerechnet?«

»Das mußte ja so kommen«, brummte Gilgamesch. »Wir sind Fremde aus dem Osten.«

»Aha, dem Osten«, sagte der Wirt. »Dem Vulking-Land, ja? Oder aus Lord Wolframs Domäne?«

»Nein, noch weiter im Osten«, sagte Gilgamesch. »Tausend Tripelmeilen, vielleicht auch zehntausend. Zuletzt waren wir in Nova Roma zu Hause.«

»In Nova Roma«, sagte der Alte leise, als hätte Gilgamesch von einem fremden Stern gesprochen. »Ja, dann seid ihr also aus Nova Roma? Aber dann seid ihr weit weg von dort. Seht her!« Und er tunkte die Fingerspitze in den herben grauen Hauswein und zog eine Linie über das splitternde Holz der Tischplatte. »Also, das Meer liegt da, und wir sind hier drüben. Das ist der Weg nach Lo-yang und das da der Weg nach Cabuldidiri. Ihr kennt diese Orte? Nein? Nun, verpaßt habt ihr dabei nicht viel. Und das da führt direkt weiter zur Brasil-Insel, von der ihr sicherlich gehört habt.«

»Brasil?« sagte Gilgamesch. »Was ist das?«

»Ich kenne es«, sagte Enkidu plötzlich. »Wenigstens vom Hörensagen. Die berühmte Insel der Weisen und der Magier, nicht wahr?«

»So ist es. Die Zauberinsel. Die Spukinsel«, sagte der Wirt. »Wo Simon der Magus als König herrscht, und mögen euch alle Dämonen davor bewahren, dem zu begegnen. Nun, und diese Berge hier, das sind die Mottenberge« — er zeichnete sie mit weiteren Weinspuren auf das dürre Holz — »und hinter denen liegen fünf Städte, und sie heißen Torfaeus, Gardilone, Pizigani, Camerata und — also, es gibt da noch eine fünfte Stadt, aber ihr Name fällt mir momentan nicht ein. Und wenn man von hier aus nordwärts geht…«

»Es reicht«, unterbrach ihn Gilgamesch. »Du sagst mir mehr, als ich wissen möchte.«

Seine Stimmung war mit jedem Namen düsterer geworden, den der Alte über die Lippen gerollt hatte. Er hatte nicht erwartet, schon so bald ans Ende der Wüste zu gelangen, doch es wurde ihm klar, daß es vielleicht überhaupt nicht ›so bald‹ war, sondern daß er und Enkidu Jahre, vielleicht Jahrhunderte in der Ödnis verbracht hatten, seit sie vom Hof des Priesterkönigs Johannes aufbrachen, während sie doch geglaubt hatten, es seien nur etliche Monate gewesen. Der Ablauf der Zeit war höchst unbestimmt hier. Und nun lag direkt vor ihm eine Küstenregion, die er noch nicht kannte, die aber allem Anschein nach derjenigen recht ähnlich war, die er hinter sich gelassen hatte: weitere Städte, weitere Könige, wieder neue Ränke und wieder die gleiche Torheit. Am besten wäre es wohl kehrtzumachen und wieder ins Kernland zurück zu ziehen. Das hatten sie doch gewiß noch nicht gänzlich durchstreift.